INTERVIEW: Jannes Jegminat erforscht den menschlichen Denkapparat mit dem Ziel, bestimmte Funktionen auf technische Automationsprozesse zu übertragen
Das menschliche Gehirn ist nicht nur in biologischer Hinsicht, sondern auch aus dem Blickwinkel der Informatik ein unerreichtes Wunderding. Die hinterlegte Rechnerleistung ist immens, die Algorithmen sind mysteriös. Ob und wie sich die Denk-, Lern- und Entscheidungsstrukturen des Gehirns auf einen realen Rechner aus schnödem Draht und feinstem Silicium übertragen lassen, das ist – vereinfacht ausgedrückt – eine Forschungsaufgabe, der sich das Institut für Neuroinformatik in Zürich verschrieben hat. Das Institut ist Teil der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH und der Universität Zürich. Wie weit die Forschung bereits gediehen ist und ob es möglich sein wird, ein menschliches Gehirn nachzubauen, darüber sprach B&P-Redakteur Wolfgang Becker mit dem Harburger Physiker Jannes Jegminat, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuroinformatik. Er arbeitet derzeit an seiner Promotion und befasst sich mit „bayesianischen Synapsen“. Oder anders ausgedrückt mit der Frage: Was macht der Zufall in unserem Gehirn?
Wenn wir über künstliche Intelligenz sprechen, dann geht zumindest bei den Laien vielfach sofort ein Film ab. Science Fiction natürlich. Künstliche Menschen übernehmen die Macht. Arbeitet das Institut für Neuroinformatik daran, das menschliche Gehirn nachzubauen?
Einfach ausgedrückt stimmt das. Konkreter: Wir nehmen Prinzipien der Informationsverarbeitung im Gehirn oder in Organismen auf und versuchen, sie in Technik zu übersetzen.
Was ist das Schwierige daran?
Unser Gehirn ist richtig kompliziert. Es ist erstens sehr schwer, die relevanten Größen experimentell zu messen, ohne das Hirn kaputtzumachen. Zweitens: Es reicht nicht aus, nur zu messen. Damit finden wir vielleicht raus, was die Bestandteile des Hirns sind, aber wir wissen nicht, wie sie sich zeitlich entwickeln. Wenn ich wissen will, wie ein Ball fliegt, reicht es auch nicht, nur ein Foto zu machen: Ich muss auch die Physik kennen, die mir sagt, wohin er fliegen wird und dass er irgendwann runterfällt. Und drittens: Selbst wenn wir alles, was uns am Hirn interessiert, messen und verstehen könnten, wäre es unglaublich schwer, das Gelernte künstlich nachzubauen, weil es auf so vielen Ebenen vom kleinsten Molekül bis zu den großen Hirnregionen in Wechselwirkung steht. Das würde ein riesiges Computersystem nötig machen, von dem wir nicht einmal wissen, ob wir das technisch realisieren könnten. Der Nachbau des Gehirns wäre ein Jahrhundertprojekt.
Es geht also nicht um eine große Festplatte und einen leistungsfähigen Arbeitsspeicher – weil das Gehirn anders funktioniert. Was funktioniert anders?
Wenn wir das alles wüssten, könnten wir vielleicht einen entsprechenden Computer bauen. Aber wir wissen es nicht. Zum Beispiel der Speicher: Wenn ich ein Buch habe, dann ist jede Information exakt an ihrem Platz. In kann dreimal hinschauen – dort stehen immer dieselben Buchstaben. Reiße ich eine Seite heraus, ist die Information weg. Im Gehirn ist das anders. Da sind die Informationen dezentral in der Dynamik der Nervenzellen gespeichert. Wenn ich dreimal dieselbe Erinnerung wachrufe, verändern sich die Verbindungen zwischen Nervenzellen jedes Mal ein wenig und damit auch die Erinnerung. Und einfach löschen kann ich eine Erinnerung sowieso nicht. Wir gehen davon aus, dass jede Erinnerung als Anregungsmuster von vielen Zellen codiert wird. Dieselben Zellen machen bei verschiedenen Erinnerungen mit. Einige Zellen sprechen beispielsweise nur auf Gelb an – also wenn ich eine Banane sehe oder die Post kommt. Wir haben es im Gehirn mit einem ganz anderen Speichertyp zu tun. Das ist auch der Grund, warum Teile des Gehirns verloren gehen können, es aber trotzdem noch funktioniert. Das wäre bei einem Computer nicht möglich.
Besonders emotionale Erlebnisse brennen sich stark ins Gehirn ein. Diese Ereignisse werden einfach nicht vergessen. Wie kommt das?
Das Gehirn verarbeitet einen riesigen Datenstrom – allein mehr als 100 Millionen Stäbchen auf der Netzhaut senden Signale. Hinzu kommen die anderen Sinne und Organe. Das muss irgendwie gefiltert werden, indem unterschieden wird, was wichtig und was nicht wichtig ist. Genau dabei hilft der ganze emotionale Apparat, der auf Themen wie Leid, Schmerz, Liebe, Freude oder Ungerechtigkeit anspringt. Der sagt im Wesentlichen: Achtung, das war wichtig, das darfst du nicht vergessen. Wer schon mal seinem Haustier etwas beibringen wollte, weiß, dass das emotionale Signal möglichst schnell kommen muss, damit das Tier die Verbindung herstellen kann. Was beim Menschen besonders ist: Mit unserer Vorstellungskraft können wir Verbindungen zwischen Dingen herstellen, die weit auseinander liegen. Ein Beispiel: Wenn ich eine schlechte Note in einer Klausur bekomme, dann ist in der Zeitspanne seit der Vorbereitung bereits ganz viel passiert, aber mit meiner Vorstellungskraft springe ich in der Zeit zurück zu den Entscheidungen, nicht zu büffeln, sondern am PC zu zocken – und ärgere mich darüber. Dadurch schaffe ich die richtige Verbindung in meinem Hirn und stärke die mahnende Stimme in mir, wenn ich nächstes Mal vor der selben Entscheidung stehe. Leider gibt es viele Schüler, die ihre Vorstellungskraft nutzen, um den Ärger ganz persönlich mit sich selbst zu verbinden, statt mit ihren Entscheidungen. Damit wenden sie die Kraft ihres emotionalen Apparats gegen sich selbst und stärken den Gedanken: Ich bin dumm, ich kann nichts.
Es ist versucht worden, das Gehirn einer Maus nachzubauen. Wie ist das Projekt ausgegangen?
Die EU hatte eine Milliarde Euro für das „Human Brain Project“ bereitgestellt, mit dem Ziel, das menschliche Gehirn in Form eines Supercomputers nachzubauen. Im ersten Schritt wurde versucht, ein Mäusegehirn zu bauen. Die Vorstellung, dass nur eine entsprechende Rechnerleistung vorhanden sein müsse, erwies sich aber als Irrtum. Das „Mäusegehirn“ steht nun in Lausanne und war ein Fehlschlag. Das Gehirn hat auf vielen verschiedenen Ebenen ein Fein-Tuning, und wir müssten eben wissen, wie die verschieden Synapsen miteinander interagieren. Die Lehre: Nur mit Rechenleistung bekommt man überhaupt keine Intelligenz.
Sind bestimmte Informationen an Hirnregionen gebunden oder wandern sie am Ende auch noch herum?
Das ist eine spannende Frage. Schlaganfall-Patienten erleben durchaus, dass sich Fähigkeiten wie Sprache wieder entwickeln, weil andere Hirnregionen einspringen und die Funktion der beschädigten Regionen übernehmen. Es gibt allerdings Hirnareale, die diese allgemeine Lernfähigkeit haben, andere dagegen nicht. Im Stammhirn wird der Herzschlag geregelt, kreative Gedanken entstehen dort nicht. Im Cortex, das ist diese blumenkohlartige Struktur, steckt dagegen ein besonders hohes Maß an Lernfähigkeit. Dieser Bereich ist auch deshalb besonders spannend, weil er das menschliche Gehirn am klarsten von denen anderer Lebewesen abgrenzt.
Warum ist ein Mensch musikalisch, ein anderer aber nicht?
Darauf gibt es keine einfache Antwort, weil so viele Faktoren – nicht nur im Hirn – hinneinspielen. Das Beispiel Musik zeigt sehr schön, dass es bestimmte Veranlagungen gibt, aber dass Leute trotzdem gefördert werden müssen, um bestimmte Fähigkeiten auch tatsächlich voll auszubilden. Und: Nur weil jemand ein guter Musiker ist, muss er kein guter Sportler sein – obwohl beide, Musiker und Sportler, ihren Motorcortex zu Höchstleistung antreiben und den Körper auf beachtliche Weise steuern. In einem musizierenden Mensch müssen auch unzählige Hirnareale wie ein gutes Orchester zusammenspielen können. Das heißt letztlich übrigens auch: Intelligenz kann man nicht immer auf der IQ-Skala ablesen.
Was ist die größte Herausforderung bei der Gehirnforschung und auf welchem Stand ist die Wissenschaft heute?
Die größte Herausforderung ist die Komplexität des Gehirns. Ich vermute, es wird niemals möglich sein, dieses Rätsel völlig zu lösen. Wir können grob einzelne Prinzipien der Informationsverarbeitung erkennen, aber bis zum Auslesen von Gedanken dürfte es ein sehr, sehr weiter Weg sein. Wo stehen wir? Wir haben in den vergangenen Jahren eine Explosion von Messgeräten erlebt. Meine Aufgabe ist es, die Ergebnisse auszuwerten – so versuchen wir, den neuronalen Code herauszubekommen, also wie Information im Gehirn dargestellt und verarbeitet wird. Um überhaupt reproduzierbare Ergebnisse zu bekommen, arbeiten wir mit möglichst einfachen Aufgabenstellungen. Etwa: Was passiert im Gehirn, wenn ein Affe mit den Augen einen sich bewegenden Punkt verfolgt.
Auf einer Skala von 1 bis 100, also vom Beginn der Forschung bis zum duplizierten Gehirn, wo stehen wir da ungefähr?
Wahrscheinlich bei 10, vielleicht 20. Aber das klingt in unserer vom Leistungsdenken geprägten Gesellschaft so, als wären zehn bis 20 Prozent der Aufgabe bereits erledigt. So funktioniert Forschung jedoch nicht. Wir interessieren uns ja gerade für die Dinge, die wir noch nicht einschätzen können. Fest steht jedenfalls, dass wir immer mehr klar umrissene, geistige Funktionen – wie etwa Tumordiagnosen – an künstliche Intelligenz outsourcen können. Aber die generalistischen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns nachzubauen, davon sind wir noch weit entfernt. Und selbst wenn eine künstliche Intelligenz alle relevanten Fähigkeiten des Hirns hätte, hätten wir immer noch nicht das Hirn nachgebaut, sondern nur seine Leistungsfähigkeit.
Zum Abschluss die Frage: Wozu das Ganze? Es gibt acht Milliarden Gehirne auf der Welt – warum wollen wir eins nachbauen?
Ich denke nicht, dass wir einen künstlichen Menschen bauen werden. In den vergangenen fünf Jahren wurden haufenweise weiche Prozesse, also solche, die man nicht als Kochrezept hinschreiben kann, in der Wirtschaft automatisiert. Da sehen wir echte Fortschritte. Vermutlich wird sich der Trend fortsetzen: Wir bauen immer mehr und bessere kognitive Module nach. Dazu brauchen wir keinen künstlichen Menschen. Aber es wird durchaus nützlich sein, zu verstehen, welche Prozesse im menschlichen Gehirn ablaufen.
Web1: https://www.ini.uzh.ch/