Der Schwerpunkt der Welt verlagert sich weg von Europa
Mit dem ehemaligen Vizekanzler und Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) präsentierte Christoph Birkel, Geschäftsführer des hit-Technopark, beim 12. InnoTalk einen der „profiliertesten Staatsmänner Deutschlands“ und meinte damit nicht etwa das Profil der legendären weißen Turnschuhe, mit denen sich Fischer 1985 in Hessen als erster Grüner in einem Ministeramt vereidigen ließ. Weiß sind heute nur noch seine Haare, staatsmännisch zudem die Beurteilungen der politischen Lage, in der sich Europa befindet. Ohne den Osten als Gegenpol geraten die Fundamente des Westens zunehmend ins Wanken. Darüber referierte Fischer vor rund 200 Gästen im hit-Technopark. Zuvor gab er B&P-Redakteur Wolfgang Becker exklusiv ein Interview.
Gestatten Sie mir eine persönliche Frage: Womit haben Sie Ihren Tag heute begonnen?
Zeitung lesen.
So richtig klassisch?
Ich brauche morgens die Druckerschwärze an den Fingern.
Wenn Sie das alles so lesen – Stichworte GroKo, Brexit, Trump – was davon treibt Sie am meisten um?
Die GroKo treibt mich nicht wirklich um. w mache ja keine Parteipolitik mehr. Ich meine, die letzten vier Jahre hätten besser sein können. Innovativer. Mehr Aufbruch. Aber sie waren keine Katastrophe. Und die kommenden vier Jahre werden auch keine Katastrophe. Das Innovationsdefizit wird zunehmen, und der Druck wird stärker werden, aber eine Katastrophe wird das nicht. Sondern „More of he same“, wie man neudeutsch sagt.
Wenn es nicht die deutsche Regierungsbildung ist, was treibt Sie dann um?
Es sind die großen Veränderungen. Sie haben Trump erwähnt. Und den Brexit. Gott sei Dank ist es in Frankreich noch einmal gutgegangen, sonst wären wir jetzt in einer völlig anderen Welt. Hätte Le Pen gewonnen, gäb’s keinen Euro mehr und die EU wäre am Ende. Das war knapp. Aber das sind Indikatoren eines Übergangsprozesses.
Wir haben ja auch die nationalistischen Töne aus den osteuropäischen EU-Staaten vernommen. Was passiert da gerade?
Ja, aber diese Länder brauchen Zeit. Es war aus meiner Sicht ein großer Irrtum, zu meinen, der Untergang des Sowjet-Blocks würde nur den Osten betreffen. Das stimmt nicht, wie wir jetzt feststellen. Ost und West waren die beiden polaren Teile eines Systems. Wenn ein Teil des Systems wegbricht, wird der andere ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Und genau das erleben wir jetzt. Den Aufstieg Chinas. Indien wird folgen. Es tritt im Grunde genommen die Normalität wieder ein, die bis Anfang des 19. Jahrhunderts gegolten hat: Diese riesigen Volkswirtschaften nehmen wieder ihren Platz ein. Sie holen technologisch, also auch wirtschaftspolitisch und machtpolitisch auf. Der Schwerpunkt der Welt verlagert sich weg von Europa, was eigentlich schon mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat. Damals verlagerte sich der Schwerpunkt nach Westen in die USA, jetzt aus dem gesamten Westen nach Ostasien. Das Wiederaufkommen des Nationalismus‘ im Westen ist für mich Ausdruck der Angst und Folge des Gefühls, sich in einem Niedergangsprozess zu befinden.
Welche Rolle spielt Putin in diesem Prozess?
Ich glaube, er wird überschätzt. Wenn wir uns die wirtschaftliche Stärke Russlands anschauen: Putin hatte die große Chance, eine breite Modernisierung der russischen Volkswirtschaft anzugehen, als der Ölpreis über 100 Dollar lag. Das hat er nicht gemacht. Im Gegenteil: Er wollte, dass die Oligarchen weiterhin das Sagen haben und die wirtschaftliche Oligarchie an der Macht bleibt. Wenn wir uns im 21. Jahrhundert fragen, was werden wir, die USA, die Japaner, die Chinesen, Inder oder die Europäer produzieren, dann kann man in etwa eine Antwort darauf geben. Aber was wird Russland produzieren – Energie. Rohstoffe. Und noch ein paar Waffen. Aber sonst?
Stichwort Brexit: Glauben Sie, dass die Briten ihren Ausstieg aus der EU bis zum bitteren Ende durchziehen werden? Man möchte ja die Hoffnung auf eine Wende nicht aufgeben . . .
…sagen wir mal so: Die Hoffnung stirbt zuletzt, ist ein schöner Spruch. Aber ich würde sie schon mal begraben. Ich meine, die Briten werden das durchziehen. Das war keine Wirtschafts-, sondern eine Identitätsentscheidung. Der Brexit ist zutiefst zu bedauern, und ich hoffe, dass es nicht zu einer schmutzigen Scheidung kommt. Die geopolitische Lage wird sich ja weder für die Briten noch für die gesamte EU verändern. Großbritannien wird weiterhin zu Europa gehören. Am besten wäre es wohl, wenn es jetzt schnell ginge und wir die Scheidungsphase hinter uns lassen könnten – damit Normalität einziehen kann.
Regen Sie eigentlich die Sprüche von Erdo^ gan auf?
Mich regen sie nicht auf. Nicht, dass ich diese Sprüche billige, aber ich war zu lange im Geschäft, als dass ich mich da noch provozieren ließe. In der Außenpolitik gilt immer: Bedenke das Ende!
Es ist ja mit Trump im Grunde genauso – was treibt diese Leute an?
In der Regel ist es die Innenpolitik. Ich rate hier zu Gelassenheit. Was nicht heißt, dass man alles herunterschluckt. Aber wir dürfen unsere Interessen nicht vergessen. Wir haben 3,5 Millionen türkischstämmige Menschen in Deutschland. Und darunter viele kurdischstämmige. Für uns ist das eine geopolitische, aber auch eine innenpolitische Frage. Man sollte da mit Geduld reagieren. Auf das Spiel einzusteigen, bringt ja nichts.
Dann macht Frau Merkel ihren Job als Kanzlerin ja ziemlich gut . . .
…es ist natürlich ein unsäglicher Unfug, Angela Merkel mit den Nazis zu vergleichen.
Angesichts der gesamtpolitischen Situation: Welche Auswirkungen erwarten Sie auf die deutsche Wirtschaft?
Erstens: Das Land, das am meisten von Europa abhängt und am meisten profitiert, sind wir. Gerade in der Wirtschaft. Zweitens: Kein Land hat so von einem freien Welthandel profitiert wie Deutschland, deshalb halte ich die Grundsatzkritik meiner eigenen Partei an den Handelsabkommen auch für falsch. Wodurch werden denn unser Sozialstaat und unser Bildungssystem finanziert? Von unserem Erfolg auf den Weltmärkten! Insofern sehe ich die Entwicklung in den USA mit Sorge, weil man dort die Axt an den freien Welthandel legt. Man muss eines sehen: Wir sind mit 82 Millionen Menschen die größte Volkswirtschaft in Europa, aber global betrachtet sind wir nichts. Gerade mal der 16. Platz mit unserer Bevölkerungsgröße. Wirtschaftlich liegen wir auf Platz fünf. Europa ist für uns von essenzieller Bedeutung, gerade auch aus Sicht der Wirtschaft. Wenn ich deutsche Unternehmer höre, die Europa-skeptisch sind, verstehe ich es ehrlich gesagt nicht.
Es wird ja bereits über das Europa der zwei Geschwindigkeiten nachgedacht . . .
Das wird so kommen. Die 27 EU-Staaten sind gemeinsam handlungsunfähig. Wir haben dadurch bereits eine Dekade verloren, eine zweite Dekade des Immobilismus können wir uns nicht erlauben. Mit den Herren Orbán (Ungarn) und Kaczynski (Polen) wird das jedoch schwer. Wenn also die beste Lösung nicht geht, muss man die zweitbeste wählen: das Europa der zwei Geschwindigkeiten. Man wird sich dennoch große Mühe geben müssen, die 27 Mitgliedsländer zusammenzuhalten – ohne sich blockieren zu lassen. Dabei werden Deutschland und Frankreich eine große Rolle spielen.
Womit werden Sie den Tag beschließen?
Noch ne Kleinigkeit essen, ein bisschen was trinken. Und dann ins Bett gehen.