Erstkontakt zur deutschen Wirtschaft

Foto: Wolfgang BeckerEine Woche Rechnungswesen: Toktam Ghazanfari schaut Controllerin Ines Sonntag über die Schulter

Praktikantin beim Zeitungsverlag Krause in Stade: Toktam Ghazanfari ist aus dem Iran geflüchtet – B&P erzählt sie ihre Geschichte.

Das Ankommen in Deutschland ist eine Herausforderung. Eine Million Flüchtlinge sind im vorigen Jahr ins Land gekommen – eine schier unaufhaltsame Bewegung, die derzeit nur deshalb ins Stocken geraten ist, weil die Bundesregierung einen Deal mit dem türkischen Präsidenten vereinbart hat, der daraus eine seltsam starke Position entwickeln konnte. Eine Million Menschen. Eine Million Schicksale. Eine Million Hoffnungen. Wer durchgekommen ist und nun in einer der zahlreichen Unterkünfte wohnt, erlebt eine neue Welt. Die deutsche Welt. Fast alles ist reglementiert. Wer gute Aussichten auf einen positiven Bescheid und damit dauerhaftes Bleiberecht hat, lernt zunächst Deutsch. So wie Toktam Ghazanfari. Bestandteil des Kurses ist auch ein Praktikum in einem Unternehmen. Sechs Wochen kennenlernen, wie es in der deutschen Wirtschaft zugeht. Die Iranerin hat dieses Praktikum beim Zeitungsverlag Krause in Stade absolviert.

Verschleppung ins Gefängnis

Toktam Ghazanfari ist Christin – für einen Iraner komme dies einem Todesurteil gleich, sagt sie, denn der Wechsel vom Islam in eine andere Religion ist verboten. Diese Geschichte begann bereits vor 13 Jahren, als sie eine Christin traf und sich mit ihr anfreundete. Das war lange bevor die heute 42-Jährige heiratete und eine Tochter bekam. Die Hochzeit mit ihrem muslimischen Mann im Jahr 2008 veränderte jedoch alles, denn durch einen Schwager ihres Mannes geriet sie ins Visier der staatlichen „Information-Police“.

Die Geschäftsfrau, die zuletzt eine Reiseagentur im Iran betrieb, berichtet von Kontakten zu einer christlichen Untergrundgemeinde, von massiven Repressalien, vom Prinzip Geld gegen Ruhe, von einer Verschleppung in ein Gefängnis außerhalb der Stadt – dort saß sie drei Monate fest, von einer abenteuerlichen Befreiung und einem Geheimversteck im Haus ihres Vaters, von Waffengewalt der Informationspolizei gegen den Vater, einem Giftanschlag auf die Mutter und einem Säureangriff, dem sie selbst nur knapp entkam – lediglich am Arm wurde sie getroffen und zeigt dazu Fotos auf dem Handy. Sie wurde auch brutal zusammengeschlagen und an der Wirbelsäule verletzt: „Ich konnte einen Monat lang nur die Augen bewegen und musste von meinem Mann gefüttert werden“, erzählt sie auf Deutsch.

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Master-Abschluss für Business-Management

Dank guter Beziehungen zum Flughafenpersonal und 10 000 Dollar Schmiergeld gelang es ihr nach mehreren vergeblichen Versuchen und trotz des Ausreiseverbotes, mit ihrer vierjährigen Tochter einen Flug nach Deutschland zu bekommen. Zunächst in  Hannover gelandet, nahm sie Kontakt zur evangelischen Kirche auf und ließ sich als erstes im Dezember 2015 in Hannover taufen.

Und nun sitzt sie in der Buchhaltung eines norddeutschen Verlages und lernt das Leben in Deutschland kennen: „Ich kann nicht mehr zurück. Ich möchte hier leben und arbeiten“, sagt Toktam Ghazanfari. Und dürfte sogar gute Chancen haben: Im Iran arbeitete sie als Übersetzerin und Dolmetscherin im Im- und Export (Reis, Zucker, Kaffee, Tee, Schokolade), war sie selbstständig als Managerin einer Reise-Agentur und zuvor technische Leiterin „Nationaler Tourismus“ in Teheran. Sie hat einen Master-Abschluss für Business-Management an der Uni Esfahan und einen Bachelor in Englisch an der Uni Zahedan gemacht, ist fit am Computer und lebt jetzt in einer Flüchtlingsunterkunft im 750-Seelen-Ort Engelschoff bei Himmelpforten. Dort engagiert sie sich freiwillig und ehrenamtlich als Dolmetscherin auf Abruf: „Ich möchte kein Geld ohne Arbeit bekommen. Ich werde gut versorgt, so kann ich etwas davon zurückgeben.“

Das Praktikum beim Zeitungsverlag hat ihr im Übrigen sehr gefallen. Außer Buchhaltung hat sie auch die Tageblatt-Redaktion, den Vertrieb und die Anzeigenabteilung kennengelernt. Und viele nette Kollegen getroffen . . .

von Wolfgang Becker

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