INTERVIEW zum Thema Flüchtlingsintegration in den Arbeitsmarkt – Zehn Fragen an Dr. Melanie Leonhard, Senatorin für Arbeit, Soziales, Familie und Integration.
Die ist die erste Hamburger Senatorin, die aus Harburg kommt und hier auch lebt: Dr. Melanie Leonhard (38) übernahm das Amt der Senatorin für Arbeit, Soziales, Familie und Integration am 1. Oktober 2015 – zu einer Zeit, als die Flüchtlingswelle bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte. Heute ist sie dafür verantwortlich, dass Hamburg die entscheidenden Fragen im Umgang mit den Migranten richtig beantwortet und Wege findet, diese Menschen zu integrieren – im ersten Schritt in den Arbeitsmarkt. Darüber sprach B&P-Redakteur Wolfgang Becker mit der Senatorin.
1
Mehr als eine Million Flüchtlinge sind allein im zurückliegenden Jahr nach Deutschland gekommen, 40 000 leben in Hamburg. Wie hoch ist der Anteil derer, die als integrationsfähig in den Arbeitsmarkt gelten?
Die Arbeitsagentur hat ausgerechnet, dass davon 375 000 im erwerbsfähigen Alter sind – das ist vom Prozentsatz her vergleichbar mit der deutschen Bevölkerung. 375 000 Menschen müssen wir also in den Arbeitsmarkt integrieren. Vor dem Hintergrund, dass wir 28 Millionen Beschäftigte haben, ist das eine Zahl die absolut gut integrierbar ist und die der Arbeitsmarkt gut verkraftet.
2
Was heißt das runtergebrochen auf Hamburg?
In Hamburg haben sich im vergangenen Jahr 61 000 Menschen gemeldet. Davon sind nach dem Verteilsystem 20 000 geblieben. Auch 2014 hatten wir schon Meldungen. Wenn wir die Zahlen des Bundes ansetzen, heißt das für uns ganz grob geschätzt: Mehr als die Hälfte davon sind erwerbsfähig.
3
Vorausgesetzt, diese Menschen sind sprachlich in der Lage, hier einen Job anzutreten – gibt es diese Arbeitsplätze überhaupt?
Ja, unser Arbeitsmarkt würde das hergeben. Wir haben nach wie vor viele Branchen, die suchend sind – das Spektrum reicht von Helferjobs im Bereich Logistik über Nachfragen nach qualifizierten Kräften im Gastronomiegewerbe bis hin zu hochspezialisierten technischen Berufen. Beispielsweise Ingenieure. Von der Altenpflege bis hin zum hochqualifizierten medizinischen Personal. Also: Lagerlogistik, Industrie, Gastronomie und Gesundheit sind die Branchen mit extrem hoher Nachfrage. Hinzu kommt das ganze Spektrum der Helferjobs, beispielsweise im Einzelhandel und im Hafen.
4
Wie ist das Echo aus den Reihen der Migranten? Stimmen Angebot und Vorstellungen überein?
Die wirklich allermeisten geflüchteten Menschen würden lieber gestern als heute eine Arbeit aufnehmen. Doch aufgrund der sprachlichen Defizite, die auch ein Deutschkurs nicht sofort ausbügelt, stehen ihnen in der Tat eher die niedrigqualifizierten Jobs offen. Deshalb wollen wir gerade die Jüngeren dafür gewinnen, sich zu qualifizieren. Oder sich vorhandene Ausbildungen anerkennen zu lassen, sodass sie langfristig in höherqualifizierte Jobs wechseln können. Denn das ist das, was unser Arbeitsmarkt eigentlich wirklich braucht.
5
Wie schätzen Sie die Situation ein: Wollen die meisten Geflüchteten tatsächlich hier bleiben und ein neues Leben aufbauen? Oder gibt es eher die Tendenz, den Krieg abzuwarten und in die Heimat zurückzukehren?
Das ist sehr unterschiedlich. Die weitaus meisten machen sich keine Illusionen über die Chancen, wirklich ins Herkunftsland zurückkehren zu können. Viele haben das abstrakt als Wunschperspektive, aber glauben nicht, dass das in den nächsten Jahren passieren könnte. Also stellen sie sich mittelfristig darauf ein, hierzubleiben. Das gilt insbesondere für die Jüngeren. Viele Menschen haben sehr viel auf sich genommen und haben auch jetzt eine entbehrungsreiche Situation. Die Notunterkünfte heißen ja nicht umsonst Notunterkunft. Deshalb ist der Wunsch nach Arbeit groß.
6
Wie ist das Echo aus den Unternehmen?
Außerordentlich gut. Wir sind eher in der Situation, Geduld einzufordern und die ausländerrechtlichen Verfahren sowie die Sprachkurse abzuwarten. Trotzdem gibt es eine Reihe von Unternehmen, die bereit sind, Geflüchtete einzustellen – mit zum Teil sehr realistischen Vorstellungen, was das bedeutet.
7
Besteht die Gefahr, dass sich ein grauer Markt für billige Arbeitskräfte mit Fluchthintergrund bildet?
Es erreichen uns immer mal wieder Berichte, dass es Menschen gibt, die sowas versuchen. Aber wir haben in Deutschland ganz gute Sicherungsmechanismen. Und der Mindestlohn hilft uns in dieser Frage ganz erheblich. Er gilt auch weiterhin uneingeschränkt für Flüchtlinge. Es kann nicht unser Interesse sein, diese Menschen dauerhaft auf Billigarbeitsplätzen gefangen zu halten, die wir als Staat noch dauerhaft subventionieren müssen. Zweitens: Wir müssen darauf achten, keinen Verdrängungswettbewerb zu deutschen Arbeitssuchenden in Gang zu bringen. Tarifgebundene Branchen müssen auch Tarif bezahlen.
8
Wie stehen Sie zu der Stammtisch-Parole „Die nehmen uns hier die Arbeitsplätze weg“?
Das kann so nicht stimmen – erstens durch den Mindestlohn. Zweitens: Viele Flüchtlinge rutschen oft und gut in Jobs bei Unternehmen, die zum Teil seit geraumer Zeit händeringend nach Kräften suchen. Verbandsvertreter aus dem Lagerlogistikbereich unterstützen uns ja auch aus diesen Gründen. Und drittens: Speziell im Großraum Hamburg gilt: Wer ein bisschen was an Qualifikation und Veränderungsbereitschaft mitbringt, kann in der Regel auch Arbeit finden – ob er Flüchtling ist oder nicht.
9
Gibt es Erkenntnisse darüber, wie die Altersklasse 30 bis 40 im deutschen Arbeitsalltag zurechtkommt? Der Leistungsdruck ist ja teilweise doch erheblich.
Wir sind vor allem speziell. Manche fragen sich schon, welches Aufhebens wir machen, bevor man mal losarbeiten darf. Das verblüfft dann doch den einen oder anderen. Die Arbeit ist hier sehr eng geregelt. Die Handelskammer hat gerade die Aktion „Angekommen in Deutschland“ und stellt Lebensgeschichten vor. Da gibt es einige ganz tolle Beispiele. Es sind Fälle aus den Jahren 2013/2014, als wir noch gar nicht merkten, was da auf uns zukommt. Für eine richtige Evaluierung ist es aber noch zu früh.
10
Wenn Sie einen Appell an die Wirtschaft formulieren sollten, wie würde der lauten?
Ich würde mich freuen, wenn sich noch mehr Unternehmen bereiterklären würden sich Menschen für eine zweite Chance im Betrieb zu öffnen. Sowohl für ältere Deutsche als auch Flüchtlinge. Selbst wenn jemand schon über 30 Jahre alt ist – es lohnt sich immer, Menschen zu qualifizieren. Auch diese haben noch mehr als 30 Jahre im Beruf vor sich – es ist für Unternehmen durchaus ein Mehrwert, auch lebenserfahrene Menschen einzustellen. Auch eine duale Berufsausbildung kann sich immer noch lohnen für jemanden, der über 30 ist, denn er wird noch viele Jahre gute Dienste im Unternehmen leisten können.
Kontakt für Unternehmen:
W.I.R-Unternehmensservice
Millerntorplatz 1
20359 Hamburg
http://www.hamburg.de/wir-unternehmensservice
HamburgUnternehmensservice-IR@arbeitsagentur.de
Telefon: +49 175 1810961