HWWI-Direktor Henning Vöpel beim Wirtschaftsverein: Mahnung an eine alternde Gesellschaft
Mit einer ziemlich deutlichen wie schmerzlichen Analyse hat Prof. Dr. Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), die etwa 100 Teilnehmer der Monatsveranstaltung des Wirtschaftsverein für den Hamburger Süden auf die heranrauschende Digitalisierungswelle eingestimmt: „Deutschland ist eine alternde Gesellschaft, deren Entwicklung von den Kräften der Besitzstandswahrung bestimmt wird. Wir pflegen lieber das Bewährte und haben wenig Neigung, Dinge zu verändern.“ Im weltweiten Ranking der digitalen Transformation rangiere Deutschland deshalb nur auf Platz 18. Vöpel: „Wir sind träge geworden.“
Wer immer noch nicht wusste, was Digitalisierung eigentlich bedeutet, der bekam zur Einstimmung eine kurze und eingängige Definition: „Digitalisierung macht den Austausch und die Verknüpfung von Daten mobil und in Echtzeit möglich. Das ist ein ungeheurer Entwicklungssprung, der allenfalls mit dem Schritt von der Agrarwirtschaft zur Industriegesellschaft vergleichbar ist“, so der Referent. Die Vernetzung zwischen Menschen, Unternehmen, Maschinen und der Infrastruktur führe dazu, dass Daten zum Produktionsfaktor würden. Ohne den Datenaustausch gebe es keine Digitalisierung.
So weit, so gut. Was das aber konkret bedeutet, erläuterte Vöpel am Beispiel Amazon. Bereits heute könne das US-Unternehmen in neun von zehn Fällen vorhersagen, was welcher Kunde beispielsweise in drei Monaten bestellen wird. Der Professor: „Also kann die Logistikkette bereits vor der Bestellung in Gang gesetzt werden. Aber: Irgendwann wird Amazon den nächsten Schritt machen und fragen, wer bestimmte Produkte produzieren möchte. Das bedeutet: Die Marge verlagert sich vom Hersteller zum Händler, denn der hat die Datenhoheit. Wir müssen heute darüber nachdenken, was zu tun ist, um nicht die Produktions-Margen an große Internetplattformen zu verlieren.“
Erhöhtes Standortrisiko
Diese datengetriebenen Entwicklungen führen zu einer Verschiebung der Märkte und wirken sich gegebenenfalls deutlich spürbar auf Wirtschaftsstandorte aus. Für die Hansestadt Hamburg sieht Vöpel ein erhöhtes Standortrisiko – als Folge hoher struktureller Trägheit und einer hohen technologischen Disruptionsgefahr. Vöpel: „Daran sind nicht die Politiker schuld. Das liegt einfach an den Gegebenheiten. Aus einem Hafen, der über hunderte Jahre der wirtschaftliche Motor war, lässt sich nicht mal eben ein Wissenschaftsstandort machen. Was hätte es wohl für Auswirkungen für die Stadt, wenn der Hafen nur zehn Prozent seiner Margen verlöre?“
Eine Möglichkeit, sich gegen die Plattform-Dominanz zu stemmen, sieht Vöpel darin, regionale und lokale Plattformen zu schaffen: „Amazons Skalierungsvorteil endet spätestens an der Stadtgrenze, wenn es uns gelingt, das lokale und regionale Wissen nutzbar zu machen. Das immer wichtiger werdende Thema Nachhaltigkeit kann Amazon zum Beispiel nicht bedienen. Warum wird Harburg nicht zum Estland Hamburgs?“ Hintergrund: Estland gilt als Vorzeigestaat im Bereich der Digitalisierung. Von Harburg aus, so der HWWI-Direktor, könne ein digitaler Sprung über die Elbe, also nach Norden, erfolgen.
Immerhin ein theoretischer Ansatz, der in der Praxis allerdings keine Chance haben dürfte, wie die meisten Zuhörer vermutlich ahnten. Harburg ist nicht einmal in der Lage, eigenmächtig eine Testzone für E-Mobilität einzurichten, da alle wichtigen Dinge grundsätzlich in den Behörden, also zentral, entschieden werden. Die Bezirke verfügen weder über adäquate Finanzmittel noch über eine nennenswerte politische Hoheit. Politisch Interessierte wissen: Jede Ortsgemeinde im benachbarten Niedersachsen hat mehr Gestaltungsspielraum. Trotz allem: ein lehrreicher Vortrag, der den Blick für die Digitalisierung noch einmal geschärft haben dürfte. wb