Der Lebensmittelhandel erlebt eine Aufwertung auf ganzer Linie. Lebensmittel einkaufen wird damit schöner – doch kann es auch zu einem Erlebnis werden?
Führte vor einigen Jahren noch die Erkenntnis zu Verwirrung, dass Konsumenten sowohl beim Discounter als auch im Feinkostgeschäft einkaufen, zeigt sich diese Verschmelzung nun auch in den einst klaren Konzepten zur Distribution von Lebensmitteln. Discounter rüsten ihr Angebot mit Markenprodukten auf, Supermärkte liefern nach Hause, und SB-Warenhäuser bieten auf ihrer Fläche Genuss- und Erlebnisinseln. Der Lebensmitteleinzelhandel vollzieht ein Trading-up. Vor allem in die bessere Ausstattung und in das Store-Design wird investiert.
Weil die Lebensmittel-Discounter in Deutschland mit der Preisstrategie allein nicht mehr Erfolg haben und eine Stagnation der Umsätze bis hin zu einer Sättigung des Marktes in Deutschland und Österreich eingetreten ist, setzen die Discounter verstärkt auf Expansionskurs in neue Märkte, darunter selbst China. Länder, die auf keine „Discount-Tradition“ wie in Deutschland zurückblicken können, konnten sie über die Preisstrategie im Sturm erobern.
Preiskampf reicht nicht
Aldi will bis 2022 in Großbritannien mit 1000 Filialen vertreten sein, Mitte 2016 lag die Anzahl laut Unternehmensangaben bereits bei 627. Weltweit ist Aldi mittlerweile in 17 Ländern, Lidl sogar in 25 Ländern vertreten. Der Discounter Penny hat neben Deutschland noch Filialen in fünf weiteren europäischen Ländern. In der Schweiz haben Aldi und Lidl allerdings erfahren, dass auch im Ausland die Strategie des reinen Preiskampfes allein noch nicht zum Erfolg führen muss – eine Anpassung an die nationalen Konsumgewohnheiten war nötig. Zum durchschlagenden Erfolg schafften sie es erst mit der Ergänzung des Sortiments durch regionale Produkte aus der Schweiz sowie mit Konzepten, die auf Nachhaltigkeit und Frische setzen.
Supermärkte sind in ihrer Evolutionsstufe schon einen Schritt weiter als die Discounter. Sie haben bereits früher zu spüren bekommen, dass sie mehr bieten müssen als die Funktion einer Vorratskammer. Während Discounter bis vor wenigen Jahren noch stetig wuchsen, haben Supermärkte schon seit Jahren mit Umsatzrückgängen und einem Filialsterben zu kämpfen. Die Anzahl der Supermärkte in Deutschland hat sich von 2008 bis 2016 beinahe halbiert: von gut 13.000 auf knapp 7.500 (Nielsen 2016). Aus diesem Grund wurde eine Aufwertung auf ganzer Linie vollzogen.
Furcht vor der Disruption
Den Lebensmittelhandel radikal neu zu denken, das fällt vielen Branchen-Playern schwer – zu groß ist die Befürchtung, mit komplett andersartigen Konzepten zu scheitern. Weitermachen wie bisher und kleine Veränderungen vornehmen ist eine Option, die zumindest die nächsten fünf Jahre noch gut funktioniert – so die vorherrschende Meinung. Der Lebensmittelhandel wägt sich auch deshalb in Sicherheit, weil bereits seit Längerem der kommende Online-Handel mit Lebensmitteln propagiert wird, aber bis jetzt noch kein durchschlagender Erfolg sichtbar geworden ist.
Während der Lebensmittel-Discount und die Supermärkte fleißig und erfolgreich experimentieren, stehen SB-Warenhäuser und Verbrauchermärkte vor großen Herausforderungen. Denn wer heute extra ins Auto steigt, um einzukaufen, erwartet mehr als reine Bedarfsdeckung. Die Ursachen für diese neue Erwartungshaltung sind der Online-Boom, kleinere To-go-Formate in Wohnortnähe und der Wunsch nach Frische seitens der Kunden. Daher werden heute mehr kleinere Einkäufe getätigt, während die großen Wocheneinkäufe zurückgehen.
Renaissance des Handwerks
Die Integration von Produzenten in Supermärkte sowie der Trend zu Food Markets zeigt: Wir erleben eine Renaissance des Handwerks. Diese geht zum einen auf den Wunsch zurück, Dinge selbst zu machen und zu produzieren – und die damit verknüpfte Vorliebe für individuell hergestellte Produkte. Zum anderen ist sie Folge des wachsenden gesellschaftlichen Bedürfnisses, zu wissen, wo etwas herkommt und wie es hergestellt wurde.
Das Selbstgemachte und Handgefertigte wird in Zeiten der Massenfertigung mit einem beinahe spirituellen Wert aufgeladen. Konsumenten wollen sich mit dem Wunsch nach „Do it yourself“ nicht aus dem traditionellen Wirtschaftssystem ausklinken, sich aber stärker in die Nahrungsmittelproduktion einklinken.
Erfolgreich in der Nische
Der wachsende Wunsch nach Individualisierung bringt zahlreiche unterschiedliche Bedürfnisse hervor. Doch unter den Individualisten finden sich stets Gleichgesinnte: Aus ihnen formen sich Interessengruppen, die ein entsprechendes Angebot am Markt fordern. Nischenkonzepte bieten Konsumenten nicht-massenfähige Produkte und Services, die sie sonst nur schwer erhalten und mit einer höheren Loyalität gegenüber den Anbietern belohnen.
Nischen können lange Zeit erfolgreich neben dem Mainstream existieren – oder aber auch in den Mainstream übergehen. Lange Zeit galten etwa vegetarische und vegane Lebensmittel oder Produkte für Allergiker als Nische, heute finden sich fleischlose Würstchen, Sojaschnitzel, laktosefreie H-Milch oder glutenfreie Backwaren in den Regalen zahlreicher Lebensmittelmärkte. Bei der Spezialisierung auf Nischeninteressen können kleine Fachgeschäfte und Supermärkte, die in den vergangenen Jahren ganz klar die Verlierer im Lebensmitteleinzelhandel waren, wieder punkten. Ihre Zukunft liegt nicht mehr in einem umfangreichen Angebot, sondern darin, eine Nische professionell zu besetzen.
(Janine Seitz)
Web: Retail Report 2018