B&P-REPORT Die Symptome reichen von Schildbürgerstreich bis hin zu kollektivem Vertrauensverlust – Ist der Staat noch handlungsfähig?
Der Aufschrei ist unüberhörbar: Immer mehr Wirtschaftsvertreter, aber auch Politiker und Vertreter von Verbänden und sogar Verwaltungen kritisieren lautstark den mittlerweile undurchdringlichen Dschungel aus Verordnungen, Gesetzen und sonstigen Regeln. Angesichts der aktuellen Krisen erscheint die deutsche Bürokratie zwar noch als ein vergleichsweise geringes Problem, tatsächlich lähmt sie wichtige Erneuerungsprozesse. B&P hat in den vergangen knapp drei Monaten gezielt Ausschau nach Beispielen und Meinungen gehalten. Das Ergebnis ist so skurril wie erschütternd – und es betrifft das ganze Land.
Anfang Oktober erhielt Bundeskanzler Olaf Scholz Post aus den baden-württembergischen Städten Schwäbisch Gmünd, Tübingen und Esslingen am Neckar. Die drei Oberbürgermeister begrüßten darin die Kanzlerinitiative für einen Deutschlandpakt zum Abbau der Bürokratie, teilten aber auch mit, dass anstelle der erhofften Trendwende beinahe täglich neue, verschärfte Regelwerke auf den Tisch kämen. Auf elf Seiten führen sie in dem Brandbrief eine erlesene Auswahl teils völlig sinnloser oder auch sich gegenseitig aushebelnder Vorschriften an, die allesamt in die Kategorie Schildbürgerstreich passen – von A wie Aufenthaltsgestattung über E wie Eidechsenschutz und L wie Licht aus (die berühmte Energiesparmaßnahme made in Berlin als Antwort auf leere Gasspeicher) bis W wie Waldkindergarten und Z wie Zone 30. Elf Seiten bundesdeutsche Realsatire (Link siehe unten).
. . . am Ende unbeweglich
Dasselbe Thema in Hamburg: Beim Europaabend des AGA Unternehmensverbandes attestierte AGA-Präsident Dr. Hans Fabian Kruse: „Wir versinken in Bürokratie!“ Gastredner Hendrik Wüst, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, stieß in dasselbe Horn und berichtete mit Bezug auf eine Umfrage des Deutschen Beamtenbundes: „69 Prozent der Menschen haben das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unseres Staates verloren.“ Er kritisierte unter anderem die Jahrzehnte dauernde Realisierung großer Infrastrukturprojekte („Das sind inzwischen Generationenaufgaben“) und die Berücksichtigung aller möglichen Interessen: „Dieses System ist so ausdifferenziert worden mit Beteiligungspflichten, Klagerechten und so weiter, dass es uns am Ende unbeweglich gemacht hat.“ Beispiele vor der Haustür gefällig? Die A26 Ost als Querverbindung zwischen A1 und A7, die Autobahnanschluss-Posse in Buxtehude oder die Südtrasse der Bahn Richtung Hannover.
Bürokratie ist mittlerweile ein Basisthema: Die Unternehmer der Buchholzer Wirtschaftsrunde kreuzten bei einer Umfrage als wichtigste Forderung an die Politik nicht etwa Investitionen an, sondern: Bürokratieabbau.
■ Der baden-württembergische Brandbrief an den Kanzler im Web: https://bit.ly/der-brandbrief