INTERVIEW Franziska Wedemann und Arnold G. Mergell (Der Wirtschaftsverein) über die deutsche Depression, die Situation der Industrie und das Monster von nebenan – die Bürokratie
W er die Medien aufmerksam verfolgt, könnte zu dem Schluss kommen, dass sich Deutschland so langsam von einem Hauptpfeiler der Wirtschaft löst: der Industrie. Sicher geglaubte Bollwerke alemannischer Maschinenbaukunst wie die Autoindustrie verabschieden sich angesichts der europäischen Klimaziele bis 2050 perspektivisch vom Verbrenner, während chinesische Elektro-Autos wie einst Dschingis Khan von Osten heranrollen und für eine radikale Marktverschiebung sorgen. Das alles geschieht in einer Phase der Turbo-Bürokratisierung, was es Unternehmern nicht leichter macht. Alles nur Panikmache? Die Stimmung in der Industrie ist auf jeden Fall gereizt, wie die Vorsitzende von Der Wirtschaftsverein e.V., Franziska Wedemann, und ihr Stellvertreter, Arnold G. Mergell, im Interview mit B&P-Redakteur Wolfgang Becker bestätigen.
Reden wir nicht lange drumherum: Wie ist die derzeitige Lage in der Industrie?
Mergell: Die chemische Industrie und die Industrie insgesamt befinden sich in einer schwierigen Situation. Nach einem guten Jahr 2021 und einem sehr guten ersten Halbjahr 2022 ist seit Mitte vorigen Jahres die Luft raus. Die Bauindustrie hat das ein wenig später abbekommen, aber die liegt jetzt auch weitgehend brach.
Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für diese Vollbremsung?
Mergell: Es gibt zwei parallele Komplexe – zum einen haben wir die klar messbaren Rahmenbedingungen, zum anderen aber eine psychologische Komponente, eine Kopfsache sozusagen. Wirtschaft ist Vertrauenssache. Ich habe mit vielen Unternehmern gesprochen. Das Vertrauen ist verloren gegangen – in die Zukunft, in die Wettbewerbsfähigkeit, in die Fähigkeit der Politik, Probleme zu lösen. Wenn da noch draufgesattelt wird, und jeder Ökonom und auch fast jeder Journalist den Weltuntergang ankündigt, dann wird es nicht besser. Die Vertrauenskrise ist fast schlimmer als die messbaren Probleme als da wären Fachkräftemangel, Energiepreise, Bürokratie.
Leidet der deutsche Patient an einer Depression?
Mergell: Ja, denn Wirtschaft findet im Kopf statt. Wenn hier jeder sagt, dass nichts mehr geht, dann findet auch nichts mehr statt. Wir müssen die Zuversicht neu schaffen. Eigentlich haben wir doch im Hamburger Süden viele Möglichkeiten, die Transformation der Wirtschaft voranzutreiben. Schade, dass es den Mittelständlern so schwer gemacht wird. Hinzu kommt noch etwas: Der mittelständische Unternehmer wird in der Gesellschaft mehr und mehr geächtet. Als Kapitalist, Inflationstreiber oder Steuersünder.
Wie beurteilen Sie die Rolle der Politik?
Mergell: Dem Staat fällt nur ein, die Probleme mit Subventionen zu lösen. Erst Überregulieren und dann Konzerne mit Milliarden fördern. Aber nirgendwo ist da der Mittelstand dran – obwohl die meisten Steuern Mittelstandssteuern sind. Da hat man dann irgendwann keine Lust mehr. Ich sage meinen Kindern heute nicht mehr, dass sie unser Unternehmen einmal fortführen sollen. Ich weiß heute nicht, wo wir in zehn Jahren stehen werden. Ich kenne Dutzende Unternehmer, denen es genauso geht. Wenn die alle hinschmeißen, dann kriegen wir hier französische Verhältnisse mit ein paar großen Staatskonzernen, die mit Subventionen über Wasser gehalten werden. Dann haben wir keinen Mittelstand mehr. Wollen wir das?
Hinzu kommt die immer stärkere Bürokratie . . .
Mergell: Ich war neulich in Brüssel, da wurde gefragt, was sich die Unternehmen von der EU wünschen. Die Antwort: Zwei Jahre lang nichts tun. Da sitzen 40 000 Beamte, die nichts anderes zu tun haben, als sich neue Gesetze und Regelungen auszudenken. Ich sehe nicht ein einziges Gesetz, wo es keinen Aufschrei irgendeiner Lobby gäbe, wenn man es abschaffen wollte. Gesetze wie das Verbandsklagerecht, die Datenschutzgrundverordnung, das Lieferkettengesetz oder das Hinweisgeberschutzgesetz. Wer braucht das alles? Aber abschaffen? Keine Chance!
Wedemann: „Es ist mal interessant zu sehen, wie viele von den über 80 Millionen Menschen in Deutschland eigentlich direkt im öffentlichen Sektor und indirekt in Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen tätig sind, die durch öffentliche Maßnahmen überhaupt erst ins Leben gerufen wurden. Als ich damals bei meinem Vater in der Großbäckerei Wedemann anfing, gab es ein Finanzamt und eine Gewerbeaufsicht. Später folgten dann ein Energie-Audit, ein Umwelt-Audit, ein Lebensmittel-Audit, die Prüfung elektrischer Anlagen, eine gesonderte Prüfung von elektrischen Rolltoren – das betraf alles Ist-Zustände. Dann kamen Berater für Investitionsbeihilfen hinzu, die man ohne bestimmte Gesetzesvorlagen gar nicht gebraucht hätte. Inzwischen gibt es Gleichstellungsbeauftragte, Arbeitsschutzbeauftragte, Datenschutzbeauftragte, Umweltbeauftragte, Emissionsschutzbeauftragte, Brandschutzbeauftragte plus Brandschutzübungen – da stellt sich doch die Frage, wieviel Tage sich Führungskräfte in der Woche mit ihrem originären Kerngeschäft beschäftigen können – das sind heute ein bis zwei Tage. Der Großteil der Arbeitszeit geht für die Erfüllung sekundärer Vorschriften drauf, über deren Sinn man sich streiten kann.
Nun kommt es ja noch besser: ESG-Scoring durch die Banken und die Vorgaben im Rahmen des Green Deals – also beispielsweise das CO2-Audit, um im Terminus dieser schönen Auflistung zu bleiben . . .
Mergell: Der Green Deal birgt für uns bei Hobum Oleochemicals enorme Risiken. Im Chemikalienrecht (REACH) sind jetzt zwölf Produkte registriert, das war schon eine Herausforderung. Jetzt stehen die nächsten 80 Produkte, sogenannte Polymere, an. Das heißt für uns: Wir werden jahrelang kein Geld verdienen. Das betrifft die ganze Branche und kann zu italienischen Verhältnissen führen: Dann reißen die Unternehmen die Compliance-Hürden und hoffen, nicht erwischt zu werden. Dann ist der Unternehmer jeden Tag mit einem Bein im Knast . . .
Wedemann: Mir erging es als Inhaberin und Geschäftsführerin der Bäckerei Wedemann ja zuletzt schon so, dass ich morgens aufwachte und nicht einmal wusste, ob ich alle Vorschriften kenne, gegen die ich an diesem Tag verstoßen könnte.
Was kann man gegen diese Entwicklung tun?
Wedemann: Die politisch Verantwortlichen in Berlin sollten sich die Frage stellen, was aus diesem Land werden soll. Wollen sie wirklich den Wohlstandsverlust, den Deindustrialisierung aufgrund der hohen Energiekosten zur Folge hat und sind sie auf die gesellschaftlichen Konsequenzen vorbereitet? Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand außerhalb unserer Landesgrenzen für unseren erhobenen moralischen Zeigefinger interessiert. Rings um uns herum finden Länder entweder andere fortschrittliche Lösungen oder sie bauen sich, wenn sie pragmatisch wie die Franzosen sind, als Übergangslösung Atomkraftwerke der neuen Reaktorgeneration, und setzen mit technologieoffener Forschung darauf, dass es für die radioaktiven Abfälle eines Tages eine gute Entsorgungslösung geben wird. Beunruhigend ist der mediale Aufschrei in diesem Land, sobald jemand den Kurs der derzeitigen Regierung zur Klimaneutralität in Frage stellt. Das behindert einen konstruktiven Diskurs und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den wir zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen benötigen. Ich plädiere hier generell für ein bisschen mehr Gelassenheit in der Diskussion.
Mergell: Bürokratie ist ein Wohlstandsthema. Wir können uns das alles leisten. Noch jedenfalls. Außerdem haben wir einen Arbeitsmarkt, der die Schließung von Firmen zulässt, ohne dass es groß auffällt. Nynas macht dicht, Noblee & Thörl macht dicht, Allnex in Wandsbek macht dicht. Alles multinationale Konzerne allein aus der Industrie, die hier in Hamburg drei deutsche Standorte schließen und 700 Leute entlassen. Das interessiert überhaupt niemanden. Eine Tragödie! Es gibt natürlich auch Branchen und Unternehmen, bei denen läuft es gut. Aber das gesamte Bild ist negativ.