Ein Fall für das Bundesverfassungsgericht?

Foto: AGVThomas Falk Foto: AGV

Thomas Falk (AGV Stade) kommentiert die EU-Richtlinie und wundert sich über das Schweigen der deutschen Gewerkschaften – Topthema im B&P-BusinessTalk.

Die Zeit läuft: Bis November 2024 soll in Deutschland die EU-Mindestlohnrichtlinie umgesetzt werden. Schon jetzt läuten in vielen Unternehmen die Alarmglocken, denn unabhängig vom derzeitigen Krisenmodus droht in den EU-Staaten nun eine Verteuerung der Lohnkosten – oder eben der Wegfall von Dienstleistungen, die bislang noch bezahlt werden konnten, wie Thomas Falk, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Stade Elbe-Weser-Dreieck e.V., im B&P-BusinessTalk sagt. Er kritisiert insbesondere den Eingriff in die grundgesetzlich fixierte Tarif­autonomie und wundert sich darüber, dass die Gewerkschaften noch nicht auf die Barrikaden gegangen sind.

Auf der Mindestlohn-Landkarte der EU sticht ein Land besonders hervor: Luxemburg. Hier wird mit 13,05 Euro/Stunde derzeit der höchste Mindestlohn gezahlt. Mit 12 Euro auf Platz zwei der 28 EU-Staaten: Deutschland. Auf den Plätzen folgen unter anderem Frankreich und Irland sowie übrigens auch das benachbarte „unsichere Drittland“ England mit gut 10 Euro Minimal-Stundenlohn. Am unteren Ende der Skala findet sich unter anderem Griechenland mit einem Mindestlohn von unter 4 Euro wieder. Dies macht deutlich: Einen einheitlichen EU-Mindestlohn kann es nicht geben.

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Falk: „Die EU-Richtlinie sieht deshalb vor, den jeweiligen nationalen Mindestlohn so zu bemessen, dass er 60 Prozent des jeweiligen Medianlohns entspricht. Das hieße für Deutschland: 13,20 Euro.“ Noch nicht eingerechnet sind die Ergebnisse aktueller Tarifverhandlungen, die angesichts der vergleichsweise hohen Inflation zu hohen Abschlüssen führen dürften – was sich dann wiederum auf den Medianlohn auswirkt. Dieser benennt die Höhe des Stundenlohns, der an dem Scheitelpunkt gezahlt wird, an dem die Zahl der Haushalte mit niedrigerem Einkommen der Zahl der Haushalte mit höherem Einkommen entspricht. Er wird deshalb auch als mittleres Einkommen bezeichnet.

Jetzt droht der Abschied von bestimmten Dienstleistungen . . .

Falk weiter: „Die Medaille hat natürlich zwei Seiten. Auf der einen Seite ist es gut, wenn Menschen für ihre Arbeit besser bezahlt werden; auf der anderen Seite muss dieses Einkommen aber auch erwirtschaftet werden.“ Seine Sorge: Bei 13,20 Euro Mindestlohn oder mehr könnte der Punkt überschritten sein, an dem sich Beschäftigung in diesem Bereich wirtschaftlich noch darstellen lässt. Die Folge: „Dann wird es bestimmte Dienstleistungen eben nicht mehr geben.“ Verhältnisse wie in England seien dann nicht ausgeschlossen. Dort hat der Brexit dazu geführt, dass viele Beschäftigte im Niedriglohnsektor das Land verlassen haben. Vor allem im Gesundheits- und Rettungswesen fehlt es massiv an Personal, was im Notfall lebensbedrohlich sein kann. Hier ist der Notstand allerdings hausgemacht und keine Folge des Mindestlohns. Das Ergebnis könne aber ähnlich sein, so Falk.

Der AGV-Chef wundert sich derweil darüber, dass die deutschen Gewerkschaften angesichts des politischen Eingriffs nicht protestieren: „Der Gesetzgeber nimmt ihnen die Arbeit ab, und sie lassen es geschehen – offenbar ist das ja ganz komfortabel.“ Er verweist auf das Grundgesetz und hält es nicht für ausgeschlossen, dass die EU-Mindestlohnrichtlinie ein Fall für das Bundesverfassungsgericht sein könnte, sobald sie in nationales Recht mündet. wb

>> Web: https://www.agv-stade.de/

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