Keine Tabus!

Arnold G. Mergell steht vor dem neuen roten Zweistoffbrenner – für den ein Verfahren nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz durchgeführt werden musste. Das Unternehmen kann nun sowohl mit Gas als auch mit Öl die hohen Temperaturen für die Produktionsprozesse erzeugen. Die Zweistoff-Lösung sichert den Betrieb für den Fall ab, dass das Gas ausbleibt. Die zweite Anlage im Hintergrund soll ebenfalls umgerüstet werden. Foto: Wolfgang Becker

ARNOLD G. MERGELL Sein Thema im Vorstand ist die Industriepolitik – Er sagt: „Die Energiekrise ist auch psychologisch getrieben.“

Bis September 2019 war Arnold G. Mergell Vorsitzender des Wirtschaftsvereins für den Hamburger Süden – ein Mann der Industrie, noch dazu mit einem Namen, der wie kaum ein anderer für die hohe Zeit der Industrieproduktion steht. Die Harburger Oelwerke Brinckman und Mergell (Hobum) sind neben der Phoenix AG, der New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie und der Eisen- und Bronzewerken (Krupp, ThyssenKrupp, heute Harburg-Freudenberger) das vielleicht bekannteste Synonym des Industriehochlaufs südlich der Elbe. In jenem September übergab Mergell den Vorsitz jedoch nach kaum zwei Jahren an Franziska Wedemann. Grund: Als Geschäftsführer der Hobum Oleochemicals GmbH sei er stärker denn je gefordert. Niemand konnte zu dem Zeitpunkt ahnen, dass mit Corona eine Pandemie ins Haus stand und 2022 ein Jahr mit ebenfalls noch nie dagewesenen Herausforderungen sein würde. Arnold G. Mergell ist zweiter Vorsitzender des Wirtschaftsvereins und verantwortet im Vorstand das Thema Industrie – derzeit vor allem mit dem Schwerpunkt Energiepolitik. Im Zuge der Gaskrise ist er mittlerweile ein gefragter Interviewpartner, denn am Beispiel Hobum Oleochemicals, einem Hersteller von Spezialchemie auf Basis von nachwachsenden Rohstoffen, lässt sich anschaulich erklären, wie sich die Preisexplosion beim Gas in Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auswirkt.

Mergell: „Die Energieversorgung ist nicht mehr gesichert. Sowohl was die Mengen angeht als auch die Preise. Wir haben viele Jahre gut vom billigen Gas aus Russland gelebt. Das kann man als ‚süßes Gift‘ oder auch ‚kollektives Versagen‘ bezeichnen, j aber Fakt ist: Wir haben jetzt durch den Wegfall von 50 Prozent unserer Gasversorgung einen Energieschock erlitten.“ Die von der Bundesregierung eingeleiteten Maßnahmen kommen viel zu spät: „Global gesehen gibt es genug Energie – keine Frage. Aber die Verfügbarkeit des Gases ist eingeschränkt. Die LNG-Terminals können diese Mengen nicht sofort ersetzen. Deshalb brauchen wir eine breit angelegte Diskussion über die Angebotserhöhung von Energie – nicht nur beim Gas, sondern auch auf dem Strommarkt. Da reden wir über die Reaktivierung von Kohlekraftwerken, leider auch über ein Weiterlaufen von Braunkohlekraftwerken, insbesondere aber auch von Kernkraftwerken und gegebenenfalls Gaskraftwerken, aber letztere wollen wir ja gerade nicht weiterbetreiben.“ Es gebe nun mal keine Alternativen. Die Stilllegung des Kohlekraftwerks Moorburg ist aus Sicht von Mergell aus ideologischen Gründen erfolgt und war ein schwerer Fehler – da seien mal eben 1600 Megawatt vom Netz genommen worden.

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Spekulation treibt die Preise hoch

Mergell weiter: „Wenn wir alles nutzen, was wir an technischen Möglichkeiten haben, wird der gesamte Bereich der Spekulation aus dem Markt genommen. Auch der Strompreis ist eine hochpsychologische Angelegenheit. Die Leute haben in Panik gekauft, aus Angst, nichts mehr zu kriegen. Das hat die Preise hochgetrieben. Beim Gas war es dasselbe. Nachfrage und Angebot waren im Sommer einigermaßen deckungsgleich, weil wir noch keinen harten Winter hatten. Weil der aber vor der Tür stand, wurde zu immensen Preisen wie verrückt eingekauft.“

Aus Sicht des Harburger Unternehmers geht es derzeit darum, den Markt wieder zu beruhigen. Dafür ist er bereit, ein heißes politisches Eisen anzupacken: „Wir müssen über die Gewinnung von Schiefer-Gas nachdenken. Das wird zwar nicht jedem gefallen, aber die Spekulationswelle beim Gaseinkauf könnten wir damit brechen, weil durch Fracking in ein bis zwei Jahren mit einem erhöhten Gasangebot zu rechnen wäre.“ Ein psychologischer Trick.

Bei allem Nachdenken über Lösungen geht Mergell davon aus, dass die Zeit der ganz billigen Energie mit drei Cent pro Kilowattstunde vorbei ist. Die Gaspreisbremse begrüßt er ausdrücklich und hält die diskutierten sieben Cent pro Kilowattstunde für viele Industriekunden für vertretbar – schließlich arbeite beispielsweise Japan seit Jahren mit diesem Preis. So könne es auch in Deutschland laufen. Preise von mehr als 30 Cent, wie sie im Sommer herrschten, seien dagegen völlig jenseits des Machbaren. Die eingetretene Entspannung am Markt mit deutlich gesunkenen Gaspreisen hat für Mergell allerdings eine wenig beruhigende Ursache: „Wir stehen an der Schwelle einer Rezession. Deshalb sinkt die Nachfrage.“

Die Krise als Geschäftsmodell?

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Trotz aller aktuellen Verwerfungen attestiert Mergell der Industrie einen hohen Stellenwert in Hamburg. Das industrielle Rückgrat habe auch 2008/2009 dafür gesorgt, dass Deutschland, Hamburg und insbesondere der Hamburger Süden gut durch die Finanzkrise gekommen seien. Mergell: „Umso wichtiger ist es jetzt, diese Industrie zu verteidigen. Leider wird es Teilen der Grundstoffindustrie selbst bei einem Gaspreis von sieben Cent schwerfallen, weiterhin am Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein.“

Doch Mitleid ist offenbar nicht angesagt: „Bei gewissen internationalen Konzernen ist es in Mode gekommen, die Energiekrise für ein Zurückfahren der Produktion zu missbrauchen, die Preise deutlich zu erhöhen, die Mitarbeiter in Kurzarbeit zu schicken – und daraus ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Meine Sorge ist, dass die Inflation, die jetzt auch beim Verbraucher durchschlägt, teils profitgetrieben ist. An verschiedenen Stellen werden richtig fette Gewinne eingefahren. Meine Forderung: Die Gaspreisbremse muss an ein Bekenntnis zum Standorterhalt der Unternehmen gekoppelt sein, die diese subventionierte Energie in Anspruch nehmen.“ Das sei eine gesellschaftliche Aufgabe.

De facto ist die beschriebene Sorge schon eingetreten. So gebe es deutliche Preissteigerungen bei Salzsäure, Natronlauge, Harnsäure, Ammoniak und Kohlensäure, weil die Produktionen teilweise ohne Not reduziert wurden. Mergell: „Ich bin weit davon entfernt, Sozialist zu sein, aber manche Unternehmen sind in der derzeitigen Krise wirklich dreist unterwegs. Der Preis für Natronlauge hat sich mal eben verzehnfacht – und wir bekommen nicht einmal die Mengen, die wir brauchen. Das schränkt uns ein. Deshalb muss die Grundstoffindustrie erhalten bleiben und die Wertschöpfungskette vor Ort wieder hergestellt werden. Sonst bekommen wir ein echtes Problem.“ Mergell fürchtet, dass große internationale Unternehmen den Standort Deutschland infolge der Gasverteuerung aufgeben könnten. Hilfreich könnte auch der diskutierte Industriestromtarif sein – mit 4 Cent pro Kilowattstunde – ähnlich wie in Frankreich seit Jahren praktiziert – könne die Industrie in Deutschland erhalten werden, so Mergell.