Wir stellen ein!

Foto: Christian Ströder/AGAVolker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverband, im Interview mit B&P. Foto: Christian Ströder/AGA

Arbeitsmarktexperte und AGA-Hauptgeschäftsführer Volker Tschirch über Fachkräftemangel, Mindestlohn, Zuwanderung, mangelnde Willkommenskultur, Qualifizierung und konjunkturelle Perspektiven.

Es ist ein bisschen wie Weihnachten – alle wissen seit Monaten, das Heiligabend bevorsteht, und plötzlich ist er da: In den kommenden sieben Jahren werden Hamburger Unternehmen rund 65 000 Fach- und Führungskräfte verlieren, weil sich die Generation Ü60 sukzessive in den Ruhestand verabschiedet. Das hat die Bundesagentur für Arbeit errechnet. Überraschend kommt diese Entwicklung nicht, denn seit Jahren warnen die Demographen vor den Auswirkungen des Rentenknicks, der erfolgt, wenn die Babyboomer, jene starken Jahrgänge aus den 60er-Jahren, den Arbeitsmarkt verlassen. Kurz: „Heiligabend“ ist jetzt. Die Zahlen sind ernüchternd, und der Druck auf dem Fachkräftemarkt steigt von Tag zu Tag. Wie die Situation im Bereich Handel und Dienstleistung ist, darüber sprach B&P-Redakteur Wolfgang Becker mit Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbandes, der in Norddeutschland rund 3500 Unternehmen aus dem Groß- und Außenhandel sowie unternehmensnahe Dienstleister betreut. Was niemanden wundern dürfte: Auch hier werden Fachkräfte dringend gesucht.

Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig und betrifft mittlerweile alle Branchen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?

Wenn wir uns anschauen, wie viele Menschen in den nächsten sieben bis acht Jahren in den Ruhestand gehen und wie viele zeitgleich hinzukommen, dann haben wir saldiert in Deutschland bis 2035 eine Lücke von fünf Millionen Beschäftigten. Zum Vergleich: Aktuell sind es rund 45 Millionen Beschäftigte, inklusive Freiberuflern und Beamten. Uns steht also ein unglaubliches Abschmelzen bevor.

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Was heißt das für Hamburg beziehungsweise die Metropolregion?

Das ist nicht so klar zu trennen, da viele Menschen aus dem Umland in Hamburg arbeiten. Wir sprechen also über die Metropolregion, aber die Zahlen der Arbeitsagentur stehen für das Bundesland Hamburg. Bei konservativer Betrachtung verlieren wir allein in der Hansestadt rund 65 000 Beschäftigte aus den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Nehmen wir auch diejenigen, die früher als mit Erreichen der Altersgrenze aufhören und vor allem den öffentlichen Dienst und die Freiberufler hinzu, kommen wir schnell in Größenordnungen von 100 000 Personen, die bis 2030 in den Ruhestand gehen werden.

Wie ist die Situation in den Unternehmen, die der AGA vertritt?

Der Fachkräftebedarf bei uns ist hoch. Unsere Unternehmen brauchen dringend Personal. Wir stellen ein – und das in großem Umfang und über alle Qualifikationen hinweg. Trotz zwei Jahren mit der Pandemie haben wir einen unglaublich robusten Arbeitsmarkt und in Hamburg mehr als eine Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Diese Zahl wurde auch in der Pandemie gehalten. Der Bereich der offenen Stellen in Hamburg liegt bei mehr als 30 000 über alle Branchen. Das klingt vielleicht gar nicht so hoch. Unter den etwa 70 000 Arbeitssuchenden ist allerdings weniger als die Hälfte gut oder sehr gut qualifiziert, theoretisch haben wir einen Ausgleich. Rund 40 000 gelten als ungelernt – vor allem dort müssen wir mit Qualifizierungsmaßnahmen ansetzen.

Selbst Gastronomie und Hotellerie klagen über fehlende Mitarbeiter . . .

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. . . wer in der Pandemie über lange Strecken zum Nichtstun verurteilt war, der hat schnell die Erfahrung gemacht, dass sich das nicht gut anfühlt. In der Folge sind viele Mitarbeiter in andere Branchen abgewandert. Betroffen ist auch der gesamte Eventbereich. Die merken, dass Leute mit ihren Kenntnissen – beispielsweise Buchhalterinnen und Buchhalter – händeringend im öffentlichen Dienst gesucht werden. Die suchen sich dann den sicheren Hafen. Diese Mitarbeiter kriegen wir in den betroffenen Branchen wohl nie wieder zurück.

Wo herrscht aus Ihrer Sicht der größte Fachkräftemangel im Groß- und Außenhandel?

Im Groß- und Außenhandel und in den Dienstleistungsunternehmen haben wir hochattraktive Arbeitsplätze mit spannenden Aufgaben. Nirgendwo gibt es eine so hohe Konzentration von Außenhandelsaktivitäten wie in Hamburg, aber tatsächlich sind es nur 1125 Unternehmen, die 13 500 Mitarbeiter beschäftigen. Die deutliche Mehrheit der Firmen hat weniger als zehn Mitarbeiter, die folglich hohe Verantwortung tragen und große Spielräume haben. Das ist beruflich sehr erfüllend und gerade auch für die nachrückende junge Generation sehr reizvoll. Die größten Herausforderungen haben wir im Bereich Logistik – zehntausende Lkw-Fahrer fehlen. 

Ist das nicht ein allgemeines Problem der Logistik-Branche?

Bundesweit haben wir mehr als 60 000 offene Fahrer-Stellen. Und das ist ja nur ein Teil, um die Liefer- und Logistikketten zu sichern. Hinzu kommt: Seit Jahren diskutieren wir über das autonome Fahren und folgern daraus, dass der Lkw-Fahrer künftig nicht mehr gebraucht wird. Also wandern potenzielle Fahrer gleich in andere Jobs ab, in denen sie gefühlt nicht durch Künstliche Intelligenz wegrationalisiert werden. Tatsächlich wird es bei vorsichtiger Schätzung aber noch 15 bis 20 Jahre dauern, bis autonomes Fahren technisch und rechtlich möglich sein wird.

Und dann auch nur auf den Hauptstrecken. Wer in Meilsen, Adendorf oder Bardowick anliefern muss, wird dies in absehbarer Zeit kaum autonom erledigen können . . .

Deshalb ist der Beruf des Lkw-Fahrers nach wie vor notwendig und hat auch Perspektive. Aber das Geschäft mit der Angst führt jetzt dazu, dass unsere Lieferketten brutal strapaziert werden.

Nun haben wir viel über die teils dramatische Situation gesprochen, welche Lösungen schlägt der AGA vor?

Künstliche Intelligenz, zusätzliche Möglichkeiten durch Automatisierung, qualifizierte Ausbildung im Sinne dualer Ausbildung und ein viel höheres Engagement in Qualifizierung – sowohl für bislang Ungelernte, aber auch berufsbegleitend für Menschen im Job. Qualifizierung ist auch das Thema für Menschen, die aus Drittländern zu uns kommen. Also ein Dreisprung aus KI, höchstmöglicher Qualifizierung und qualifizierter Zuwanderung – wobei wir feststellen, dass der Zuwanderungssaldo in den vergangenen Jahren ebenfalls immer geringer wird. 2020 kamen etwa 1,2 Millionen Menschen zu uns, aber zeitgleich sind auch eine Millionen Menschen abgewandert. Das wird häufig übersehen. Und die Abwanderung betrifft häufig Hochqualifizierte – zum Beispiel im medizinischen Bereich.

Seit Januar 2020 haben wir ein erleichtertes Zuwanderungsgesetz – wirkt sich das positiv aus?

Wir haben dieses Gesetz stark befürwortet, können die Wirkung aber tatsächlich noch nicht einschätzen, da zeitgleich auch die Pandemie ausbrach. Die bisherige Statistik ist also durch Corona stark verfälscht. Was wir sagen können: Es bleibt bislang zu bürokratisch – immerhin hat sich die Ampelkoalition vorgenommen, das Verfahren für die 600 deutschen Ausländerbehörden zu harmonisieren. Aber aktuell dauert es noch Monate, bis eine Person aus dem Ausland mit Arbeitsvertrag in Deutschland tatsächlich auch ihren Job antreten kann. Da gehen viele Interessenten dann lieber in ein Land, das eine höhere Willkommenskultur hat. Unsere Kernforderung lautet deshalb: Wir brauchen eine echte Willkommenskultur, ein echtes Werben dafür, dass man in Deutschland sein Glück finden kann. Wir sprechen hier nicht über Armutsmigration – die müssen wir zurückfahren –, sondern über eine gezielte Anwerbepolitik. Vom Facharbeiter bis zum Akademiker. 

Deutschland erwartet viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Was bedeutet das für den Arbeitsmarkt?

Der brutale Angriffskrieg ist auch eine humanitäre Katastrophe. Zuallererst geht es also darum, den Menschen vor Ort und denen, die aus der Ukraine zu uns kommen, zu helfen. Die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in Deutschland ist überwältigend groß. Gemäß der sogenannten „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU sollen Geflüchtete einen Schutzstatus von bis zu drei Jahren erhalten und bekommen damit Zugang zum Arbeitsmarkt. Unsere Arbeitsagenturen und Jobcenter sind darauf vorbereitet, unsere Unternehmen bieten auch vorübergehend Stellen an.

Das ganze Interview ab 1. April in B&P Print und online unter www.business-poeple-magazin.de

Web: www.aga.de