Aus Intuition wird Innovation

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Die Tempo-Story

Wenn zwei Kohlenhändler in die Automobilproduktion einsteigen, sich bei der Wahl ihres Modells auf technisches Neuland begeben und – aus Intuition wird Innovation – schließlich Automobilgeschichte schreiben, kann man nach heutigen Begriffen nur von einem perfekten Start-up sprechen. Die Innovation der Zeit war in den 1920er-Jahren das Automobil. Immer mehr Autos, immer mehr Straßen – und immer höhere Steuern. Erleichterung für gewerbliche Nutzfahrzeuge brachte 1928 ein Gesetz, nach dem Fahrzeuge mit weniger als vier Rädern zu „Krafträdern“ erklärt wurden, befreit von Steuerlast und Führerscheinpflicht. Für die Hamburger Kaufleute Max und Oscar Vidal, Vater und Sohn, ein Signal für den Sprung ins Unbekannte: die Entwicklung eines motorisierten Dreirads.

Neun PS aus einem Einzylinder-Zweitaktmotor, über eine Antriebswelle mit dem Vorderrad verbunden, konnten glatt ein halbes Dutzend Pferdedroschken ersetzen, mit denen die Vidals ihre Kohlen zu den Kunden brachten. In einer Schlosserei in Hamburg-Eidelstedt wurde der Anfang gemacht. Und der Name gefunden: Tempowerk. Nur ein halbes Jahr später steuerte das Start-up seiner ersten Krise entgegen: Konstruktionsfehler, Fertigungsmängel, Reklamationen. Doch es nahte Rettung, denn die holperigen Aktivitäten der technisch unbedarften Kohlenhändler waren einem Genie aufgefallen. Sein Name: Otto Daus.

Otto Daus – der Chefkonstrukteur

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Daus war kein Ingenieur, kein studierter Techniker, aber er war der geborene Erfinder. Er flog mit selbstgebastelten Flugzeugen, dachte nach über Mechanik, Hydraulik, Metallbau. Er entwarf, baute zusammen, probierte aus, immer auf der Suche nach dem Auto, dem Motor der Zukunft. Im März 1929 kreuzte er mit einem Automobil Marke Eigenbau bei den Vidals auf. Das war der Tag, an dem der Aufstieg von Tempo zum weltweit größten Nutzwagenhersteller für leichte Klein-Lkw begann. Sechs Wochen später war Otto Daus Chefkonstrukteur des Tempowerks. Er
ersann neue Konstruktionen für Vorder- und Hinterachse, verstärkte das Fahrgestell, erhöhte die Zuladung, erfand einen für das Dreirad revolutionären Frontantrieb. Mit seinen Ideen füllte er die Auftragslisten. Ein Jahr nach seiner Anstellung rollte der 1000. Tempo aus der Montagehalle.

Bald waren die Produktionskapazitäten überlastet. Glücklicherweise wurde in Harburg im Herbst 1934 ein 60 000 Quadratmeter großes Gelände frei – das heutige Mercedes-Werk Hamburg samt Tempowerkring. Ein halbes Jahr später lief dort der erste Tempo vom Band.

Allrad made in Harburg

Otto Daus erfand und erfand. Er verbesserte die Karosserie, verlängerte den Radstand, entwickelte einen neuartigen vierrädrigen Kleinlastwagen mit pendelnder Aufhängung eines wassergekühlten 19-PS-Zweizylinder-Zweitaktmotors und ahnte nicht, dass diese Innovation mit zum Ende des Dreiradlasters beitragen würde. Bis dahin vergingen allerdings noch 20 Jahre. Das erste Produktionsjahr in Harburg ging mit einem Paukenschlag zu Ende, dessen Schallwellen um den Erdball liefen. Otto Daus hatte einen Geländewagen erfunden, der seiner Zeit technisch weit voraus war. Eines der ersten Allrad-Autos der Welt. Lange, bevor Jeep und Landrover auf ähnliche Ideen kamen. Exportiert unter anderem nach Australien, Brasilien, Chile, Finnland und auf den Balkan. Und auch nach Thailand zu einem autoverrückten Hob­by­rennfahrer: Prinz Biro von Siam, ein Neffe des Königs.

Das nächste Jahr, die nächste Innovation: Das erste Automobil mit einem „E“ in der Typenbezeichnung. Es stand weder für Einspritz- noch für Elektromotor, sondern für Eisen. Otto Daus hatte eine für die kleinen Dreiräder neuartige Stahlkarosserie entwickelt. Keine zehn Jahre nach der Gründung war der 10 000. Tempo vom Band gerollt. 1937 stammte jeder dritte Lieferwagen auf deutschen Straßen aus dem Harburger Start-up-Unternehmen der einstigen Kohlenhändler aus dem Levantehaus in der Mönckebergstraße.

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Dann kam der Krieg. Benzin wurde knapp. Ab 1944 durften keine Fahrzeuge mit Benzinantrieb gebaut werden, sofern sie nicht von kriegswichtiger Bedeutung waren. Tempo stand still. Zum Glück. Weil das Tempowerk nicht an der Rüstungsproduktion beteiligt war, erhielt es als erstes deutsches Automobilwerk schon vier Monate nach Kriegsende von der britischen Militärverwaltung die Erlaubnis, wieder Autos zu produzieren.

Symbol des Wiederaufbaus

Ein Jahr nach Einführung der D-Mark lief 1949 der 100 000. Tempo vom Band. Unter seinem neuen Namen „Hanseat“ wurde der Dreiradlaster zu einem Symbol des Wiederaufbaus. Er transportierte Schutt und Trümmer, Kohlen, Gemüse, Hausrat – unverwüstlich, anspruchslos, sparsam. Jedes Jahr mehr als 10 000 Fahrzeuge, Exporte in 48 Länder der Welt. Tempo war der größte deutsche Nutzwagenhersteller.

Doch das Wirtschaftswunder entließ seine Väter. Ein Auto auf drei Rädern war nicht mehr zeitgemäß. Im Frühjahr 1954 verließ der 150 000. Tempo das Harburger Werk – ein Vierrad. Ein Jahr später wurde der letzte „Hanseat“ montiert. Das Dreirad mit seinem Zweizylinder-Zweitaktmotor verschwand in der Geschichte.

Der weltweit erste E-Tempo

Eines aber, 1951 in Harburg gebaut, kehrte aus den Exportjahren Anfang der 50er-Jahre 2020 an die Stätte seiner Geburt zurück. Knallrot lackiert, mit einem schnurrenden Elektromotor unter der historischen Haube steht es im neuen Tempowerk in einem zum Ausstellungsraum umfunktionieren Glascontainer. Ein Symbol dafür, dass Innovation eine Geschichte hat – und niemals zu Ende ist. Denn Innovation im Sinne des einstigen Genies Otto Daus wird auch heute von den im Tempowerk ansässigen Unternehmen mehr denn je mit Leben erfüllt.