INTERVIEW Hamburgs Senatorin für Arbeit, Soziales, Familien und Integration über die Auswirkung der Digitalisierung
Als Senatorin für Arbeit, Soziales, Familien und Integration verantwortet Dr. Melanie Leonhard das vielleicht schwierigste Ressort innerhalb des Hamburger Senats – und meistert diese Aufgabe seit Oktober 2015 mit Bravour. Eine Schnittstelle gibt es zur Wirtschaftsbehörde, denn als Senatorin für Arbeit ist die Harburgerin, die zugleich Landesvorsitzende der SPD ist, auch mehrmals im Monat Gast in Unternehmen. Ihre Zuständigkeit: die Organisation der Arbeitsverwaltung, kommunale Qualifizierungsangebote und der Fachkräftemangel. „Immer am Puls der Hamburger Wirtschaft bleiben“, sagt sie, „damit der Wohlstand in Hamburg so hoch bleibt, wie er ist.“ Mit der Senatorin sprach B&P-Redakteur Wolfgang Becker.
Wir haben einerseits diesen massiven Fachkräftemangel quer durch alle Branchen und andererseits das Thema Digitalisierung, von dem viele Unternehmen noch nicht so recht wissen, wie es sich auf den Arbeitsmarkt auswirken wird. Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Digitalisierung ein?
Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, durch die Digitalisierung werden wir künftig immer weniger Menschen brauchen, die arbeiten oder einen Beruf haben, den sie mit ihrer Hände Arbeit bewältigen. Egal wo ich unterwegs bin: Im Zusammenhang mit Digitalisierung geht es in den Unternehmen immer darum, wie sie ihre Prozesse optimieren oder die Kommunikation verbessern – also: Wie können wir technologischen Wandel nutzen, um Arbeit besser, noch effizienter oder näher am Menschen gestalten. Und weil wir die Digitalisierung auch nicht aufhalten können oder wollen, bin ich zugleich optimistisch, dass wir uns ihre Entwicklungen zunutze machen können.
Das ist die eine Ebene der Digitalisierung, die man als nach innen gerichtet bezeichnen könnte. Und die nicht selten mit Automation verwechselt wird. Aber es gibt noch eine höhere Ebene, die dazu führt, dass traditionelle Geschäftsmodelle von außen überrollt und quasi abgeschafft werden. Es reicht aber nicht, dass nach innen alles smarter wird – ist dieses Bewusstsein in den Unternehmen vorhanden?
Es geht nicht nur darum, was wir tun, sondern auch darum, wie wir es tun. Die Veränderung von Prozessen birgt auch die Chance, Arbeitsbedingungen zu verbessern. Andererseits tun sich durch zunehmende Vernetzung neue Geschäftsmodelle auf. Seit Unternehmen wie Amazon auf dem Markt erschienen, wurden nach und nach eine ganze Reihe von Großlagerhäusern eingerichtet, die die gehandelten Waren vorhalten. Mittlerweile gibt es Online-Versandhäuser, die nicht mal mehr Lagerhäuser haben. Die stehen mit ganz vielen Herstellern und Fachhändlern rund um die Welt in Kontakt und schicken eine Auslieferungsnachricht, wenn die Ware verkauft wurde – die Lieferung erfolgt also direkt vom Hersteller zum Endkunden. Jetzt können wir darüber nachdenken, ob es künftig überhaupt noch Lagerhäuser geben muss, aber als Unternehmer in diesem Umfeld muss ich doch die Frage stellen, wie ich mir diese Entwicklung zunutze machen kann, wo da mein Platz ist, und ob ich nicht der lokale Anbieter sein kann, der genau dieses Modell vor Ort anbietet. Im Grunde geht es immer um eine Anbieter-Kunden-Beziehung.
Das Beispiel erinnert an das Thema über versus Taxiunternehmen . . .
Es gab in der Tat die Vorstellung, dass das Taxengewerbe durch Apps und Car-Sharing-Modelle quasi in kürzester Zeit überflüssig werden würde. Die Wahrheit aber ist: Durch den zusätzlichen Service, den Taxiunternehmen bis heute bieten – egal, wo ich bin, sie kommen dort hin, ich muss nicht selber fahren, und ich kann sie zu jeder Tages- und Nachtzeit bestellen –, sind viele Anbieter bis heute sehr erfolgreich. Sie haben sich aber Apps zunutze gemacht, um andere Kunden noch besser zu erreichen. Darin liegen für mich die Chancen.
Das Stichwort Kundenbeziehung ist schon gefallen. Das ist der Hebel, an dem viele digitale Newcomer ansetzen – sie schalten sich sozusagen dazwischen. Beispiel Check24 als Ansprechpartner, wenn ich eine Versicherung suche. Hier wird die bestehende Beziehung zwischen Versicherer und Kunde in der Akquisephase abgeschnitten, auf die kommt es aber doch an.
Der Trend geht ganz klar in diese Richtung. Die Bank- und Versicherungsbranche ist daher auch einer der ganz wenigen Bereiche, in denen sich ein Fachkräfteüberhang abzeichnen könnte. Zugleich gibt es jedoch eine ganze Reihe von Finanzdienstleistern und FinTechs, die mit einer Stärkung der Kundenbeziehung punkten und so wiederum neue Geschäftsmodelle erschließen. Und: Eine schlechte Erfahrung im Online-Bereich – zum Beispiel eine Versicherungsleistung, die nicht abgedeckt war – bringt den Wert der persönlichen Beratung wieder in den Vordergrund. Aber: Sie muss dann auch gut sein! Der Konkurrenzdruck ist unbestritten größer geworden.
Wie weit ist es vor diesem noch etwas diffusen Hintergrund für Sie als Senatorin überhaupt möglich, zukunftsorientiert an den richtigen Stellschrauben zu drehen? Beispiel Fachkräfte: Wer heute noch gesucht wird, ist vielleicht morgen schon überflüssig. Wie gehen Sie da vor?
Das ist die Schlüsselfrage: Wie erkenne ich, welche Kompetenzen morgen noch gefragt sind? Zurzeit ist die Hauptaufgabe, das Potenzial an Fachkräften in den Unternehmen – wie haben in Hamburg eine Million Arbeitsverhältnisse – in die Lage zu versetzen, möglichst lange im Job bleiben zu können. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, sich auch nach einem vielleicht schon längeren Berufsleben noch einmal weiter zu qualifizieren. Dafür müssen wir Angebote schaffen. Und zwar heute schon.
Es muss ja nicht gleich jeder Programmierer werden . . .
Nein! Manchmal reicht es doch schon, dass ich meine Arbeit durch unterstützende Systeme vielleicht länger ausüben kann, als ich eigentlich gedacht habe – zum Beispiel indem das Heben und Bewegen schwerer Lasten durch technische Helfer übernommen wird. In der Industrie wird bereits der Einsatz von Exoskeletten erprobt. Das zahlt alles auf die Frage ein, wie es gelingen kann, gute Fachkräfte möglichst lange zu halten. Wir wissen heute schon, wie viele Schulabgänger wir in den kommenden Jahren zu erwarten haben und wie viele Arbeitnehmer die Altersgrenze erreichen werden. Da ist eine ziemliche Lücke, denn es kommen sehr viel weniger Arbeitskräfte nach als ausscheiden. Wenn wir aber ein produktives Land bleiben wollen, müssen wir alle Chancen nutzen, die die Digitalisierung bietet, um Fachkräfte in den Unternehmen zu halten.
Welche Stimmung begegnet Ihnen in den Unternehmen?
Das ist unterschiedlich – viele Unternehmen gerade im technischen und industriellen Bereich sind sehr aufgeschlossen. Das geht so weit, dass schon in der Arbeitnehmerschaft darüber nachgedacht wird, wie sich das Unternehmen für die Zukunft aufstellen muss. Es gibt aber auch Branchen, in denen sich starke Zukunftsängste breitmachen. Ein Beispiel: Wer heute Kraftfahrer ist, steht auf der Suchliste der Unternehmen ganz oben. Diese Leute sind immens nachgefragt. Es werden zudem händeringend Menschen gesucht, die diesen Beruf erlernen wollen. Gleichzeitig hört diese Berufsgruppe überall in den Medien, dass es sie bald nicht mehr geben wird – Thema autonomes Fahren. Dadurch entstehen Zukunftsängste, die mit der aktuellen Situation gar nicht in Einklang zu bringen sind, die aber mit der gesellschaftlichen Debatte zu tun haben . . .
. . . und die dazu führen, dass sich potenzielle Nachrücker beruflich gleich anders orientieren.
Natürlich! Warum soll ich etwas lernen, das in zehn Jahren nicht mehr gebraucht wird. Da müssen wir eine ehrliche und aufgeklärtere Debatte führen. Sicherlich werden wir irgendwann Routen haben, auf denen autonom gefahren wird. Aber ich bin sicher, dass das nicht überall der Fall sein wird. Und ich bin genauso sicher, dass es erfahrene Kraftfahrer geben wird, die autonomes Fahren steuern. Die haben dann vielleicht andere Aufgaben, aber sie werden gebraucht. Wir führen Debatten, die ständig darauf ausgerichtet sind, dass ein Großteil der Menschen nicht mehr gebraucht wird. Das ist so falsch wie unklug.