Ist das Glas nun halb leer oder halb voll? In Bremen scheiden sich die Geister daran, wie die Entwicklung in den nördlichen Stadtteilen Burglesum, Vegesack und Blumenthal zu beurteilen ist.
Für Max Zeitz ist das Glas mindestens halb voll, wenn nicht sogar noch voller. Für eine Pensionskasse als Investor entwickelt Zeitz derzeit die Zukunft des Haven Höövt-Geländes, dem ehemaligen großdimensionierten Einkaufszentrum oberhalb des Vegesacker Hafens. Neun Jahre nach seiner Gründung war das von Anfang umstrittene Zentrum 2012 in die Insolvenz gegangen. 37.000 Quadratmeter vermietbare Fläche und rund 70 Geschäfte waren einfach zu viel für den Norden, in dem mit den niedersächsischen Nachbarn 120.000 Einwohner leben. Das Projekt hatte seinerzeit dem traditionellen Vegesacker Einzelhandel einiges an Kaufkraft entzogen. Nun treibt Max Zeitz die Umkehr voran. In dem neuen Projekt, das er nun an derselben Stelle plant, ist zwar ebenfalls Einzelhandel vorgesehen – aber in einem deutlich kleineren Maßstab: „Wir haben die Einkaufsfläche auf 11.500 Quadratmeter reduziert“, sagt er.
Ankermieter für 25 Jahre verpflichtet
Der größte Teil des Areals wird jedoch mit Wohnungen, einem Hotel und Gastronomie gebaut – und mit dem neuen Polizeikommissariat Vegesack, in dem rund 200 Beamte ihren Dienst tun werden. Insgesamt 120 Millionen Euro will die Pensionskasse in das Vorhaben investieren. Zeitz ist überzeugt, dass dieses Geld auch deshalb gut angelegt ist, weil es Leben in den Norden bringt. „Hier entstehen auf einen Schlag mehrere 100 Arbeitsplätze“, sagt er, „das allein wird Vegesack einen deutlichen Impuls geben.“ Kaufland habe sich als Ankermieter für mindestens 25 Jahre an den Standort gebunden“, verweist er auf die langfristige Perspektive. Offensichtlich ist der Bremer Norden auch deshalb so schön grün, weil dies die Farbe der Hoffnung ist. Hoffnung können Burglesum, Vegesack und Blumenthal durchaus vertragen. „Eigentlich gehören wir mit unseren großen Parks und der malerischen Lage an Weser und Lesum zu den schönsten Stadtteilen Bremens“, ist Rainer Küchen, Vorsitzender des Wirtschafts- und Strukturrates Bremen-Nord, überzeugt.
Aber der Bremer Norden ist längst nicht so idyllisch, wie es die Parklandschaften und Flussufer vermuten lassen. Zu wenige Arbeitsplätze direkt vor Ort, zumindest einige Wohngegenden mit einem überproportionalen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund oder der Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. „Seit Jahren diskutieren wir Lösungen, aber nichts kommt so richtig voran“, meint Küchen. Der Zusammenbruch des Bremer Vulkan- Verbundes vor 32 Jahren, die Schließung der Bremer Wollkämmerei Ende 2008 und das Aus für die Produktion der Norddeutschen Steingut im einstigen Stammwerk Bremen-Grohn – der Bremer Norden musste in den vergangenen drei Jahrzehnten einige Nackenschläge einstecken.
Ähnlich wie im ebenfalls seinerzeit krisengeschüttelten und nur etwas größeren Bremerhaven stieg die Arbeitslosigkeit in Bremen-Nord signifikant an. Laut Bundesagentur für Arbeit beträgt die Arbeitslosigkeit in Bremen- Nord 12,0 Prozent (Stand: April 2019) – gegenüber 12,3 Prozent in Bremerhaven und 8,7 Prozent in Bremen-Stadt. Und trotzdem: „Der Fachkräftemangel zählt zu den größten Problemen der Wirtschaft in Bremen-Nord“, sagen die Vorstände des Unternehmerforums Bremen- Nord. Der Verein hat 20 Mitgliedsfirmen, die mit rund 7000 Beschäftigten fast die Hälfte der etwas mehr als 18 000 Arbeitsplätze in Bremen-Nord stellen.
Nur 17 Arbeitsplätze pro 100 Einwohner
Wenn man das Verhältnis zwischen der Zahl der Einwohner und der Zahl der Arbeitsplätze in Bremen-Nord mit der Relation im übrigen Stadtgebiet vergleicht, kommt man zu einem erschreckenden Ergebnis: Im Norden gibt es pro 100 Einwohner nur 17 Arbeitsplätze; im übrigen Stadtgebiet dagegen im Schnitt rund 50 Jobs pro 100 Bewohner. Aber: der Anteil der Arbeitnehmer im Norden an der Wohnbevölkerung ist mit 53,3 Prozent nur geringfügig kleiner als im Durchschnitt der Gesamtstadt (53,9 Prozent). Die Konsequenzen sind jeden Abend auf der Autobahn zu sehen: Staus in jeder denkbaren Länge. Die Arbeitnehmer aus dem Norden müssen in den Süden Bremens, ins niedersächsische Umland oder nach Bremerhaven pendeln. Mit der Autobahn und der Grambker bzw. Bremer Heerstraße gibt es nur zwei nennenswerte Straßenverbindungen; dazu kommt noch die Bahnverbindung, „deren Züge aber nicht verlässlich und in ausreichender Zahl fahren“, wie es das Unternehmerforum kritisiert.
Eine der gemeinsamen Ursache für die heutige Situation waren die Unternehmenskrisen, die Mitte der 1990er Jahre begannen. In den Folgejahren schrumpfte die Einwohnerzahl im Norden von 105.000 auf 96.000 Personen. Dass die Zahl der Bewohner wieder langsam steigt, ist nicht einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung zuzuschreiben. Bereits vor den Flüchtlingswellen zogen seit 2010 vor allem Menschen mit Migrationshintergrund nach Norden. Jahrelang war der Norden der Bezirk Bremens mit der höchsten Überalterung, derzeit wächst die Zahl der Kinder überproportional. Ähnlich wie das Bevölkerungswachstum ist dies auf die Zuwanderung aus dem Ausland zurückzuführen. Und zum anderen zogen die großen Wohnungsleerstände insbesondere in den Ortsteilen Lüssum, Blumenthal und Grohn viele Familien mit Kindern an, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind. „Wir müssen aufpassen, dass Bremen-Nord nicht zur Schlafstadt Bremens wird“, warnt Rainer Küchen.
Seit rund 10 Jahren auf der Agenda
Die Frage der künftigen Entwicklung beschäftigt die Wirtschaft in Bremen und zumindest die Politik in Bremen-Nord bereits seit rund 10 Jahren. Viele Projekte von damals stehen bis heute auf der Agenda. Das Gelände der ehemaligen Baumwollkämmerei ist mittlerweile erschlossen und verzeichnet bereits erste neue Gewerbeansiedlungen. Aber die historischen Gebäude aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts warten immer noch auf eine Sanierung und vor allem die offensive Vermarktung. Möglicherweise entsteht hier ein Berufsschul-Campus, der für Frequenz und Belebung des Areals sorgen kann. Immerhin hat das frühere Werftgelände des Bremer Vulkan sein Gesicht schon weitgehend gewandelt. Hinter dem ehemaligen Haupteingang haben sich zahlreiche kleine und mittelständische Unternehmen angesiedelt – der moderne Schiffbau ist wieder prägend für das Gelände. Der Industrie-Park an der Grenze zum Hafengebiet wirkt dagegen so, als sei er mitten in der Blüte seiner Entwicklung steckengeblieben. Dort haben sich eine ganze Reihe offenkundig erfolgreicher Unternehmen angesiedelt – doch das Maß, in dem das Grün auf unbebauten Nachbargrundstücken wuchert, lässt noch ein gewisses Potenzial zur Vermarktung dieser Flächen erkennen. Das Unternehmerforum Bremen-Nord hat eine wesentliche Ursache für die viel zu langsame Entwicklung erkannt: Die Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren dauern aus Sicht der Wirtschaft viel zu lange, um die expandierenden sowie sich ansiedelnden Unternehmen mit Flächen zu versorgen.
Bau des Wesertunnels sorgt für Anschluss
Natürlich gibt es auch Projekte, die bereits jetzt wesentlich zur Verbesserung der Situation beigetragen haben – ganz weit vorne ist dabei die private Jacobs-University auf dem Gelände der ehemaligen Roland-Kaserne in Bremen-Grohn. Auch wenn deren Studenten später auf ihrem Berufsweg in die weite Welt hinausgehen werden, bringen sie heute frischen Wind in den Norden. Und seitdem der Bau des Wesertunnels begonnen hat, steigen die Hoffnungen, dass Bremen-Nord wieder richtigen Anschluss an den Rest der Welt bekommen wird. Denn nach wie vor fühlen sich viele in dem Stadtbezirk vom übrigen Bremen abgehängt. Offensichtlich wirkt da immer noch Geschichte nach: Offiziell gibt es Bremen-Nord erst seit 1939, als das bremische Vegesack sowie die preußischen Gemeinden Blumenthal, Lesum, Grohn, Schönebeck, Aumund und Farge Teil der Stadt Bremen wurden.
Mit gewissem Neid blicken die Bremen-Norder dabei auf die Stadt Bremerhaven: „Bremerhaven hat eine gesetzlich festgelegte Zahl von Bürgerschaftsabgeordneten, das haben wir nicht“, stellt Rainer Küchen fest – und unausgesprochen schwingt die Frage mit: Wird Bremen-Nord möglicherweise nicht angemessen in der Politik des Senats und der Bürgerschaft berücksichtigt? Trotz seiner Kritik an der Arbeit von Politik und Verwaltung sieht das Unternehmerforum einen wesentlichen Grund für die vergebliche Suche nach qualifizierten neuen Beschäftigten im Image des Bremer Nordens. Neben klaren Entscheidungen für die Verbesserung der „Hardware“ in Bremen fordern die Unternehmer verstärkte Marketingbemühungen für ein besseres Image ihres Stadtteils. Schließlich soll jeder davon überzeugt werden, dass das Glas in Bremen-Nord halb voll und nicht halb leer ist.
Von Wolfgang Heumer