Zeitsprung: So funktioniert Logistik in der brasilianischen Inselwelt südlich von Salvador/Bahia
Schneller, weiter, höher – es scheint keine Grenzen zu geben, wenn es um die Entwicklung neuer Technologie, neuer Strategien und neuer Möglichkeiten geht, noch mehr Geld einzusparen und noch profitabler zu werden. Das gilt auch für die Logistik. Mit 3D-Druck-Strategien werden Transporte schlicht umgangen. Mit Konzepten für die „letzte Meile“ wird der Lieferverkehr in den Städten optimiert. Und mit der Digitalisierung werden Hafenverkehre derart beschleunigt, dass der große Konkurrent Rotterdam zumindest gefühlt ein bisschen blasser aussieht. Das ist unsere Hamburger Welt. Doch es gibt noch andere Welten. Zum Beispiel im ewigen Schwellenland Brasilien. In den dortigen Häfen landen natürlich auch die roten und weißen Container der traditionsreichen Reederei Hamburg Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft, kurz Hamburg Süd, die seit 2017 zur dänischen Reederei Maersk gehört. Doch kommen Sie mit in die Inselwelten südlich von Salvador/Bahia – dort trifft der überraschte Brazil-Besucher auf Logistik aus dem vorletzten Jahrhundert. Und das Beste: Sie funktioniert!
Die „Olivence III“ liegt tief im Wasser. Einmal täglich kommt die „Barco de Pesca“, das landestypische, zum Frachtschiff umfunktionierte etwa zwölf Meter lange Fischerboot nach Velha Boipeba, dem Hauptort der gleichnamigen Insel knapp 100 Kilometer südlich von Salvador an der Atlantikküste. Autos gibt es auf Boipeba nicht. Alles was hier transportiert werden muss, wird auf einachsige Eselskarren, seltener Handkarren und häufig Schubkarren verladen. Wenn die hölzerne „Olivence III“ vom Atlantik in den Wasserarm einbiegt, der Boipeba von der nördlich gelegenen Ilha de Tinharé trennt, erwacht das Fischer- und mittlerweile auch Urlaubsdorf zum Leben. Endlich was los hier im realsten Beachclub der Welt.
Ein skurriles Stillleben
Es ist bereits Nachmittag, und die Sonne brennt sich mit voller Wucht in die staubigen Straßen. Mehrere Dutzend junge männliche Inselbewohner hoffen auf einen Job – trotz 30 Grad Celsius geben sie ihre Schattenplätze auf und eilen zum Anleger. Gleich macht die „Olivence III“ fest – beladen mit allem, was auf der Insel benötigt wird. Und das ist wirklich alles. Auf dem Anleger türmt sich binnen kürzester Zeit ein skurriles Stilleben aus Wasserflaschen, Benzinkanistern, Gemüsekisten, Kühlschränken, Möbeln, Säcken, Kartons mit Lebensmitteln und Handelswaren aller Art, auch Baumaterialien wie Ziegel, Fensterelemente und Zement, auf.
Jetzt schlägt die Stunde der Logistiker – junge Männer, die virtuos mit ihren einachsigen Eselskarren rangieren. Sie warten in einer langen Reihe darauf, einen der etwa fünf Stellplätze am Anleger zu bekommen, um dort Ladung aufzunehmen. Die logistische Operation läuft auf Hochtouren. Nachrückende Karren werden in der engen Gasse, die vom Oberdorf zum Hafen führt, hart abgebremst, es folgt eine haarsträubende Wende auf der „Hochachse“, wobei der Esel mit Kopf und Hals hochkant an der Hauswand entlangschrammt. Nach diesem abenteuerlichen Manöver geht es mit Höchsttempo 20 Meter rückwärts (!) in die Lücke zwischen den anderen Karren, die bereits beladen werden. Für ein autonomes Containertransport-Vehikel auf dem Terminal Altenwerder wäre das so wohl kaum möglich. Es fehlt die Chaos-Komponente. Digitale Steuerung zur Optimierung der Taktung ist in Boipeba nicht nötig. Wer zuerst da ist, hat den Job. Nach gut einer Stunde ist der Spuk vorbei. Die „Olivence III“ tuckert in die untergehende Sonne, ihrem nächsten Ziel entgegen. Der Anleger ist schnell von der Last der Gebrauchsgüter befreit. Im Dorf liefern sich jetzt die Schubkarren-Taxis ein Wettrennen, denn kleinere Mengen werden am besten zu Fuß ausgeliefert. De facto beginnt am Bootssteg im Hafen die berühmte „letzte Meile“, also die Strecke, auf der die Ware den Besteller erreicht, in diesem Fall Betreiber kleiner Läden und Restaurants, Dorfbewohner, Gewerbetreibende und die Inhaber der Pousadas, durchweg kleine, teils idyllisch gelegene Hotelbetriebe. Velha Boipeba liegt quasi im Radius dieser Meile.
Wettrennen auf der „letzten Meile“
Die fast romantischen Bilder, die im Hochtechnologieland Deutschland an längst vergangene Zeiten erinnern, dürfen über eines jedoch nicht hinwegtäuschen: Hier geht es ums nackte Überleben. Der bescheidende Transportjob sichert die nächste Mahlzeit. Wer einen Esel plus Einachser hat, kann sich glücklich schätzen. Wer darauf angewiesen ist, Waren mit der Schubkarre zu transportieren, gilt als Tagelöhner und ruiniert nicht selten seine Gesundheit mit permanent viel zu hohen Lasten. Ein Leben von der Hand in den Mund. In der Hoffnung auf den nächsten Job.
Neunachsige Mega-Gespanne
Die langanhaltende Rezession hat das Schwellenland Brasilien vielerorts schwer getroffen. Die Infrastruktur ist zumindest im weiteren Umland der Vier-Millionen-Stadt Salvador, der einstigen Hauptstadt Brasiliens, vielfach marode oder gar nicht erst vorhanden. Kilometerlange rote Pisten mit Felsen und Schlaglöchern sind an der Tagesordnung. Eineinhalb Stunden für 20 Kilometer? Ist halt so. Bahnlinien gibt es so gut wie nicht. Auf den wenigen asphaltierten „Highways“ liefern sich übernächtigte, angeblich nicht selten auch vollgekokste Motorista Tag für Tag und vor allem Nacht für Nacht ein nervenzerfetzendes Rennen mit bis zu 45 Meter langen neunachsigen Mega-Gespannen, die bergab gern auch mal Tempo 120 fahren und bergan kaum von der Stelle kommen. Das lebensgefährliche Gegenmodell zur Schubkarren-Logistik im idyllischen Fischerdorf Boipeba. Von Wolfgang Becker