Das gibt wieder Minuspunkte auf dem Negativkonto der Erdogan-Trolle: Cem Özdemir, bis Januar 2018 Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen und während der Regierungsbildung sogar als Außenminister einer möglichen Jamaika-Koalition gehandelt (CDU, FDP, Grüne), sorgte beim Herrenabend des Wirtschaftsvereins für den Hamburger Süden für Lacher, als er meinte: „Es hätte mir eine bübische Freude bereitet, als Vertreter der Bundesregierung in die Türkei zu reisen und Herrn Erdogan reinen Ayram einzuschenken.“ Mit Özdemir präsentierte der Wirtschaftsverein wieder einen Toppolitiker, der es verstand, seine rund
350 Zuhörer im Saal des Hotels Lindtner zu fesseln.
Der Herrenabend gehört in die Riege der Harburger Premiumveranstaltungen, die Menschen aus der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, der Wissenschaft der Verwaltung und vor allem der ganzen Metropolregion zusammenführt. Die Herren im Smoking, die Damen in Lang – hier zeigt sich Harburg von seiner besten gesellschaftlichen und verbindenden Seite. Arnold G. Mergell, Vorsitzender des Wirtschaftsvereins, freute sich über den regen Zuspruch und gab als Einstimmung auf den Hauptredner einen kurzen weltpolitischen Zwischenstand – mit Hinweisen auf den aufkeimenden Populismus, den Socialmedia-getriebenen Untergang der guten Umgangsformen, Ärgernisse wie die Dieselaffäre und staatsschädigende Cum-ex-Geschäfte, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie die DSGVO sowie die anstehende Digitalisierung. Der Herrenabend sei das analoge Gegenmodell: „Ein gutes Gespräch bei einem guten Wein ist mehr wert als 100 Freunde auf Facebook.“
„Besser keine Hausaufgaben . . .“
Nach der „Maronen-Créme-Suppe mit Apfelperlen und geräucherter Entenbrust“ trat Özdemir ans Mikrofon. Er bedauerte, dass die Jamaika-Koalition „verlindert“ wurde – kleiner Seitenhieb auf FDP-Chef Christian Lindner – und berichtete bei Lindtner (Özdemir scherzhaft: „Geht’s noch?“) von seinem achtjährigen Sohn, der ihm nun in Anlehnung an die Lindner-Absage an Jamaika sage „Besser keine Hausaufgaben als schlechte Hausaufgaben“. Özdemir beließ es bei der FDP-Schelte und teilte stattdessen gegen die AfD aus: „Die AfD hat viel gegen Ausländer, aber nichts gegen ausländisches Geld.“ Gleichwohl sitze sie überall in den Landesregierungen und im Bundestag – zu Lasten der großen Volksparteien. Özdemir ernst: „Es gibt für mich keinen Grund zu jubeln, wenn die Tektonik der deutschen Parteienlandschaft zerbröselt. Wir brauchen die großen Volksparteien. Davon bin ich überzeugt.“
Der europäische Populismus, Trump und der Brexit („Habe ich nicht mit gerechnet“), die „Zurück zum Nationalstaat“-Mentalität – all dies bereite ihm große Sorgen. Die liberale Demokratie stehe im Kampf gegen die Rückkehr zunehmed autoritärer Herrscher. Özdemir an Mergell: „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass sie sich hier so deutlich proeuropäisch positioniert haben.“ Der aufkommende Populismus sei auch ein Ergebnis digitaler Kampagnen.
Auch zum Brexit hat Özdemir eine klare Haltung: „Ich bin immer noch mit derselben Frau verheiratet und habe deshalb jemanden gefragt, der sich mit Trennungen auskennt: Joschka Fischer. Der sagt: Das Geheimnis einer guten Scheidung ist Großzügigkeit. Wir sollten keine Rache an den Briten üben. Wir brauchen sie, und sie brauchen uns – auf vielen Feldern. Aber wir Deutschen sollten endlich die ausgestreckte Hand von Frankreichs Präsidenten Manuel Macron ergreifen und gemeinsam für Europa handeln.“
Der Herrenabend endete nach dem „Crépinette vom Schwarzfederhuhn“ und einer „Crema Catalana mit Madarinen-Sorbet“ wie gewohnt bei zahllosen Gesprächen und dem durchweg geteilten Kommentar: „Die Rede von Cem Özdemir war unterhaltsam und gut.“ wb