Die letzte Meile

Dr. Jürgen Glaser über logistische Ansätze und Gedankenspiele, die die Mobilitäts- und Logistik-konzepte vor Ort verändern.

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Dr. Jürgen Glaser

Zwei gesellschaftliche Entwicklungen sind dafür verantwortlich, dass sich scheinbar stabile Liefer- und Kaufverhältnisse zurzeit massiv verändern. Zum einen verändern sich die Lebensgewohnheiten und das Einkaufsverhalten der Menschen, zum anderen greifen die Digitalisierung und das Internet extrem in die Marktgewohnheiten ein und stellen infrage, was bislang als unumstößlich galt. Gekauft und bestellt wird rund um die Uhr. Im selben Rahmen wie der Geduldspegel sinkt, steigt die Nachfrage nach sofortiger Lieferung. Das Motto lautet: Schnell, schneller, noch schneller. So erprobt der Anbieter Amazon neue Konzepte mit einer Lieferzeit von einer Stunde nach Bestellung und setzt damit eine ganze Branche unter Druck. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sieht Dr. Jürgen Glaser, Prokurist bei der Süderelbe AG und als solcher auch höchst aktiv in der Logistik-Initiative Hamburg, radikale Veränderungen auf die Gesellschaft zukommen – mit teils grundlegenden Kurskorrekturen beispielsweise im stationären Handel und bei Entwicklung und Erprobung städtischer Mobilitäts- und Versorgungskonzepte.

Das „Pudo-Konzept“

Das Unternehmen DHL hat sich der Thematik in Kooperation mit der Technischen Universität Darmstadt ausführlich gewidmet und stellt fest, dass es aufgrund veränderter Lebens- und Arbeitsgewohnheiten immer schwieriger wird, Pakete zuzustellen. Immer häufiger seien mehrere Zustellversuche nötig. Die Antwort: eine weitere Automatisierung und Restrukturierung der Paketaufgabe- und Paketabholprozesse. Grund: Auf der letzten Meile zum Empfänger sind die Kosten besonders hoch – vor allem, wenn die Zustellung beim Privatkunden erfolglos ist. Obwohl nur noch eine geringe Distanz zu überbrücken ist, steigen die Kosten hier überproportional an. Dasselbe gilt übrigens für die erste Meile – damit ist der Weg vom Absender zum Transporteur gemeint. Heute sind dazu in der Regel Paketannahmestellen nötig. Laut DHL gehört den „Pudos“ die Zukunft. Das sind automatisierte „Pick-up Points und Drop-off Points”.

Das „Pudo-Konzept” sieht eine breitflächige Einrichtung von automatischen, aber auch personell besetzten Empfangs- und Abholpunkten vor. Was nichts anderes heißt als: Auch auf der letzten Meile tragen Empfänger ihr Paket künftig selbst.

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Supermärkte ohne Fenster

Themenwechsel: Als Logistik-Experte beobachtet Dr. Jürgen Glaser aufmerksam, wie sich die Dinge verändern. „Durch die Digitalisierung wird sich vieles verändern“, prophezeit er. Vor allem bei der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, wie zum Beispiel Lebensmittel, positionieren sich alle Akteure neu. Da ist echte Dynamik im Markt. Und im Windschatten der Drohnen-Belieferungsdebatte entstehen neue Lager- und Logistikkonzepte wie zum Beispiel die „Dark Stores“. Das sind sozusagen Supermärkte ohne Fenster – eine Mischung aus Laden und Lager. Im Dark-Store kann niemand persönlich einkaufen. Sie sind aber auch viel kleiner als zum Beispiel ein Zentral- oder Regionallager. Idealerweise liegen die Standorte am Rand der Innenstädte, in Stadtteilzentren oder in Städten mittlerer Größe, um von dort aus die dicht besiedelten Quartiere zu beliefern.

Die Waren, die dort zusammengestellt und ausgeliefert werden, wurden zuvor von den Kunden online bestellt. Oder sie werden in einem kleinen Shop direkt am Lager selbst abgeholt („Click & Collect“), wie Glaser sagt. Über die USA und Großbritannien hat dieses Konzept Einzug in Europa gehalten. In Deutschland hat Rewe bereits bestehende Supermärkte in Lager und Auslieferungsorte umgewandelt. Die letzte Meile, nämlich das Hinfahren zum und Einkaufen im Supermarkt, würde sich in diesem Fall auf den Lebensmittelhandel verlagern, da der Kunde zu Hause bliebe. Wenn die Waren gebündelt und mit Elektrofahrzeugen oder Lastenfahrrädern ausgeliefert werden, ist dieses Nahversorgungskonzept auch ökologisch vorteilhaft gegenüber dem klassischen Einkauf.

Beifall für „Emmas Enkel“

Bereits vor 13 Jahren wurde mit „Emmas Enkel“ ein neues Einkaufskonzept erfunden und erstmals in Düsseldorf realisiert. Die Idee: Der Kunde kauft direkt im Laden oder per iPad in der „guten Stube“ des Ladens oder online beziehungsweise per Telefon von zu Hause ein. Flinke Helfer packen alles im Lager zusammen und übergeben den Einkauf dem Kunden respektive einem Kurier, der die vollen Tüten nach Hause liefert. Die Grundidee fand ein großes Echo in den Medien, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und kann heute gut und gerne als Prototyp eines neuen Einkaufszeitalters in Deutschland angesehen werden. Sozusagen Shopping 4.0. Das Konzept war so erfolgreich, das „Emmas Enkel“ prompt vom Handelsriesen Metro übernommen wurde.

13 Jahre später sind der Online-Handel und sogenannte Multi-Channel-Ansätze ein Thema mit deutlich mehr Potenzial. Im Zeitalter der barttragenden Hipster ist Freizeit ein hohes Gut und Einkauf eher ein lästiges „Must do“. Nicht ausgeschlossen, dass da eine Generation von klassischen Einkaufsverweigerern heranwächst, die den Supermarkt-Besuchszwang gegen ein paar Klicks auf dem Tablet eintauscht und sich das Duschgel an die Badewanne liefern lässt.

Die regionale Komponente

Für Glaser steht fest: Eine Verzahnung des regionalen und lokalen Handels mit dem E-Commerce ist unumgänglich: „Das muss Hand in Hand gehen. Weitere Services müssen angeboten werden, zum Beispiel mit den Schwerpukten: Mobilität, Ernährung und Gesundheit.“

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Und noch ein wichtiger Punkt des Logistik-Experten: „Wer sich auf dieses Verkaufs- und Liefermodell festlegt, der muss vor allem den ländlichen Raum beherrschen.“ Und: „Dennoch: Die Idee ist da. Die Idee ist gut. Und Betreiber für smarte Liefer- und Nahversorgungskonzepte fänden wir! Trotzdem funktionieren diese Modelle in der Startphase nur mit Unterstützung. Denn nur durch eine Kombination von unterschiedlichen im Quartier anfallenden Liefer- und Logistikdienstleistungen können die bestehenden Kapazitäten optimiert und zugleich auch eine Entlastung der verkehrlichen Situation herbeigeführt werden.“

Wohin die „neue Zeit“ auch führen kann, zeigt sich in Köln und Augsburg: Weil immer mehr Menschen beim Gehen auf ihr Handy starren, wurden an neuralgischen Punkten Bodenampeln in den Gehweg eingelassen – damit der Online-Nutzer oder Facebook-Leser nicht aus Versehen vor die Straßenbahn läuft. Ob die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters damit ausgereizt sind, dürfte allerdings bezweifelt werden. Es wird der Tag kommen, da schalten sich die Handy-Bildschirme per Ampel-App automatisch auf Rot, wenn sich der Online-Junky mitten bei der Lebensmittelbestellung einer Straße, einer Bahnlinie oder auch nur einem Laternenpfahl nähert . . .