INTERVIEW: AGA-Hauptgeschäftsführer Volker Tschirch.
Als gäbe es nicht schon genug Probleme, neudeutsch: Herausforderungen: Während die Unternehmen im Lande mit gestiegenen Energiepreisen, zerbröselten Lieferketten, dem Materialnotstand, der Renaissance der Zinsen und dem Fachkräftemangel zu kämpfen haben, wird im Windschatten all dieser Krisen (von denen eine schon völlig reichen würde . . .) eine weitere befeuert, an die sich der Deutsche an sich so sehr gewöhnt hat, dass er sie gar nicht mehr richtig wahrnimmt. Es geht um die Regulierungskrise und den unbändigen Drang der Berufspolitik, mit Gesetzen Spuren in der Geschichte zu hinterlassen, deren Namen so lang wie eine Blindschleiche sind. Schon mal was von EnSikuMaV gehört? Das steht für, Achtung anschnallen, die schöne Wortschöpfung:
Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung eine Kreation aus dem Hause Habeck. Das Bundeswirtschaftsministerium wollte damit sagen: Macht das Licht an öffentlichen Gebäuden und Denkmälern aus, um Strom zu sparen. Diese Maßnahme wurde übrigens gerade bis zum 15. April verlängert. Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbandes, hat noch ganz andere Gesetze auf Lager – diese „Bürokratiemonster“ machen vor allem der Wirtschaft das Leben schwer. Im Interview mit B&P-Redakteur Wolfgang Becker spricht er über die aktuelle wirtschaftliche Situation in den Unternehmen und die Krise made in Germany.
Wie stark macht sich die Multikrise derzeit in den 3500 Unternehmen aus dem Bereich Groß- und Außenhandel sowie Dienstleistung bemerkbar, die im AGA Unternehmensverband organisiert sind?
Wir kämpfen darum, aus dem Krisenmodus herauszukommen. Das ist uns im ausgehenden Jahr 2022 schon recht gut gelungen. Die Ergebnisse waren besser als wir erwartet haben. Die Indikatoren für dieses Jahr sind gar nicht so schlecht, aber ganz klar: Wir brauchen den Frieden in Europa. Es muss dafür gesorgt werden, dass der Angriffskrieg Putins beendet wird. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sich die Rahmenbedingungen verbessern. Die Daten aus unserem Wirtschaftstest stimmen uns aber relativ optimistisch. Unsere Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um 1,9 Prozent gewachsen – das macht Mut und lässt darauf hoffen, dass gerade die kleinen und mittleren Unternehmen auch 2023 gut zurechtkommen.
An welchen Stellschrauben können wir drehen?
Unsere Lieferketten müssen diverser werden, wir müssen uns breiter aufstellen. Damit sind insbesondere die Unternehmen aus dem Groß- und Außenhandel sehr beschäftigt, um die Lieferfähigkeit aller Produkte aufrechtzuerhalten. Wenn wir uns in Abhängigkeiten begeben, kommen wir in Schwierigkeiten.
Das bedeutet natürlich im Zweifel auch, dass die billigste Lösung nicht immer die beste ist. Nach diesem Prinzip sind wir ja auf der ausgelagerten Werkbank in China und anderen ostasiatischen Staaten gelandet . . .
Wir haben eine internationale Arbeitsteilung, die dazu führt, dass wir insgesamt den Wohlstand mehren. Weltweit. Aber eben auch dazu, dass wir Produktionen einfacher Art ausgelagert haben. Das war das Agreement. Da muss man schauen, ob das weiter trägt. Ich denke Ja, denn es ist ein Irrglaube, zu meinen, die Internationalisierung lasse sich zurückdrehen. Das wird nicht funktionieren. Aber wir dürfen uns eben nicht in die Abhängigkeit von einzelnen Ländern begeben – insbesondere wenn sie autokratisch oder gar totalitär geführt werden und ausfallen können. Der Druck im Kessel ist gestiegen, deshalb müssen wir uns mehr Partner suchen und unsere Lieferketten diversifizieren.
Vor diesem Hintergrund nun zur Krise made in Germany: Wir wollen über die Regulierung durch den Staat sprechen, die den Unternehmen zusätzlich zu schaffen macht. Da steht der AGA an vorderster Front. Wie ist die Situation?
Zum Jahresbeginn ist das nationale Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz in Kraft getreten. Wir haben die ersten Rückmeldungen und Erfahrungen mit diesem Bürokratiemonster. Und es droht neues Ungemach, weil wir auf europäischer Ebene eine neue Richtlinie bekommen – beide Gesetzgebungen werden möglicherweise sogar parallel gelten. Das heißt: Der Aufwand für Dokumentation & Co. ist immens gestiegen.
Zwischenfrage: Können die Unternehmen das überhaupt leisten?
Das Gesetz in der nationalen Ausprägung sieht vor, dass Unternehmen ab 3000 Mitarbeitern diese Dokumentationspflichten erfüllen müssen. Klingt so, als sei der gesamte Mittelstand gar nicht betroffen. Tatsächlich ist die Praxis aber eine ganz andere: Die großen Unternehmen und Konzerne lassen sich von kleineren Importeuren beliefern. Der große Discounter hat kleine Importeure, die beispielsweise das ganze Textilangebot im Discount in eigener Verantwortung beschaffen. Natürlich verlangt der große Auftraggeber von seinem kleinen Lieferanten eine lückenlose Dokumentation der Lieferkette. Konkret: keine Kinderarbeit, Sozialstandards und Einhaltung von Umweltstandards entlang der gesamten Lieferkette. Ein immenser Aufwand. Damit werden nicht nur in den Verwaltungen, sondern auch in den Unternehmen neue Arbeitsplätze geschaffen – mit Leuten, die sich ausschließlich mit der Dokumentation befassen. Beispiel: Ein Baustoffhändler hat 20 000 Artikel im Sortiment – und muss für jeden einzelnen nachweisen, dass die Lieferkette den Vorgaben entspricht. Ein unglaublicher Aufwuchs von Bürokratie – und zwar ohne, dass es den Menschen in den Ländern außerhalb Deutschlands und Europas besser gehen wird. Hinzu kommt: Viele Auflagen sind nicht umsetzbar – das ist handwerklich schlecht gemacht.
Welches Echo kommt aus den Unternehmen?
Sie ächzen. Entscheidend ist: Es ist die Summe der Auflagen – Steuergesetze, Arbeitsstättenrichtlinien und vieles mehr – damit wird immer stärker vom Kerngeschäft abgelenkt. Die Frustration wächst. Und führt in der Folge dazu, dass es Probleme bei der Unternehmensnachfolge und eine Tendenz hin zu größeren Unternehmen gibt.
Aufgrund der staatlichen Regulierungswut?
Das liegt auch daran, dass der Staat die Dinge nicht attraktiv gestaltet. Es wird kein Unternehmergeist entfesselt, stattdessen werden bürokratische Fesseln auferlegt. Wir haben das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, wir haben das Thema der Nachhaltigkeitsberichterstattung, wir haben die Renaissance der Stechuhr, wir haben die EU-Whistleblower-Richtlinie – das Hinweisgeberschutzgesetz, das jetzt vom Bundesrat nochmal gestoppt wurde, aber die Regelungen werden Bestand haben. Perspektivisch auch für Unternehmen ab 50 Mitarbeiter. Auch wenn davon selten Gebrauch gemacht wird, wie wir aus dem Bereich der Aktiengesellschaften wissen, muss die Möglichkeit der anonymen Hinweisgebung geschaffen werden. Das heißt: Mitarbeiter beauftragen, Technik einkaufen, denn das ist aufwendig. Dann haben wir die Holschuld der Arbeitgeber bei Krankmeldungen – eine Form der Digitalisierung, die sich wirklich nur Bürokraten ausdenken konnten. Das alles löst Aufwand und Kosten aus.
Hier sprechen wir über eine hausgemachte Belastungsliste, die ja unendlich erweitert werden könnte. Allein wenn wir mal an das Baurecht denken. Wieso lässt sich das nicht stoppen?
Wir haben dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht – zum Beispiel, Gesetze mit Verfallsdaten zu versehen. In den Bundesländern funktioniert das zum Teil. Unsere Erfahrung: Jede politische Ankündigung von Bürokratieabbau wurde von Bürokratieaufwuchs an anderer Stelle übertroffen.
Politiker definieren ihre Arbeit oft im Formulieren von Gesetzen – die damit als eine Art Arbeitsnachweis gelten können. Haben wir einen Systemfehler?
Es sind eben vielfach Kopfgeburten. Wenig praxisorientiert. Das macht es problematisch. Natürlich geht es dabei auch um Existenzberechtigung. Und jeder, der ein Gesetz erkämpft hat, verteidigt das. Das gilt zum Beispiel auch für die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Um es mal klar zu sagen: Niemand in der Wirtschaft verschwendet Ressourcen, also beispielsweise Rohstoffe. Ressourcen sind schonend einzusetzen. Das ist ein ur-ökonomisches Prinzip. Dazu bieten wir jetzt in Zusammenarbeit mit der Dekra und der Helmut-Schmidt-Universität ein neues Nachhaltigkeitssiegel. Es unterstützt kleine und mittlere Unternehmen dabei, die nachhaltigkeitsbezogenen Transparenz- und Sorgfaltspflichten zu durchschauen und die eigenen Nachhaltigkeitsbemühungen zu verorten.
Ist das ein reiner Service für Verbandsmitglieder?
Nein, dieses Siegel kann sich jedes Unternehmen mit uns erarbeiten.
Das neue AGA-Siegel „Zertifizierte Nachhaltigkeitsleistung“
D er Trend ist unübersehbar: Immer mehr Unternehmen dokumentieren nach außen, wie sie sich um Nachhaltigkeit in den Prozessen kümmern und dafür sorgen, perspektivisch einen möglichst kleinen, am besten jedoch gar keinen CO2-Footprint zu hinterlassen. Der weltweite Temperaturanstieg als Folge der ungebremsten Emission von Treibhausgasen hat deutschlandweit eine Bewegung ausgelöst, die nicht zuletzt auch dadurch befeuert wird, dass ein schlechtes Nachhaltigkeits-Ranking zu Problemen bei Finanzierungsfragen durch Banken oder bei der Besetzung von Stellen führen kann. Gemeinsam mit der Prüfgesellschaft Dekra und Prof. Dr. Stefan Müller von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität (HSU) hat der AGA Unternehmensverband jetzt ein Siegel entwickelt, das Nachhaltigkeitsleistung zertifiziert und eine Chance für Unternehmen jedweder Art ist, sich einem kompetenten Nachhaltigkeitscheck zu unterziehen.
Unter dem Strich geht es darum, dass Unternehmen einen soliden Überblick darüber erhalten, wie sie gegenüber der wachsenden nachhaltigkeitsbezogenen Bürokratie aufgestellt sind. Der Siegel-Prozess hilft dabei, unternehmerische Nachhaltigkeitsleistung zu analysieren, Handlungsbedarfe zu formulieren und Verbesserungsmaßnahmen auszulösen. Das beinhaltet Fragen rund um das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sowie viele weitere, bereits vorhandene als auch zu erwartende gesetzliche Auflagen und Anforderungen – national wie europäisch. Damit wird auch die Einführung eines umfassenden Nachhaltigkeitsmanagements im Unternehmen gestützt. Messbare und belegbare Nachhaltigkeit fördere die Reputation des Unternehmens und steigere die Attraktivität für potenzielle Fach- und Führungskräfte, heißt es beim AGA.
Der Zertifizierungsprozess beginnt mit einem Fragebogen, den die AGA Service GmbH gemeinsam mit Prof. Dr. Stefan Müller von der HSU entwickelt hat. Er sagt: „Bei der Fülle der gesetzlichen Nachhaltigkeitsanforderungen ist es wichtig, den Durchblick zu bewahren und zu wissen, wie das eigene Unternehmen aufgestellt ist.“ Dabei hilft der Fragebogen. Im zweiten Schritt hat das Unternehmen die Möglichkeit, Themen zu bearbeiten, dann – Schritt drei – klingelt der Dekra-Prüfer an der Tür und erstellt nach einem ausführlichen Audit einen Bericht mit Handlungsempfehlungen. Ist die „Siegel-Reife“ erreicht, gibt es den „grünen Pfeil“ – das neue Siegel, das nach zwei Jahren rezertifiziert werden muss. Kosten für AGA-Mitglieder: 3900 Euro. Nichtmitglieder zahlen 4500 Euro. wb
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