Hamburgs Wirtschaftssenatorin Dr. Melanie Leonhard über die heißen Eisen Hafenschlick, Energietransformation, Fachkräftemangel und
Industriepolitik.
Politische Beobachter halten es für ein Phänomen: Fast acht Jahre lang hat die Harburger SPD-Politikerin Dr. Melanie Leonhard die Sozialbehörde geleitet, ohne dass es auch nur einen einzigen „Skandal“ gegeben hätte. Und das trotz Flüchtlingskrise, Ukraine-Krise (noch mehr Flüchtlinge) und Fachkräftemangel. Letzteren hat sie thematisch zumindest teilweise in ihr neues Ressort mitgenommen. Seit Ende 2022 ist sie Senatorin für Wirtschaft und Innovation – ebenfalls ein Posten, der viele heiße Eisen zu bieten hat, wie sie beim Antrittsbesuch von B&P-Redakteur Wolfgang Becker im Interview beschreibt.
Was ist zurzeit das heißeste Eisen auf dem Schreibtisch der Hamburger Senatorin für Wirtschaft und Innovation?
Ich bin in der Situation, dass ich tatsächlich eine ganze Reihe von heißen Eisen habe und täglich gucken muss, welches denn gerade am heißesten ist und ganz dringlich aus dem Feuer herausgeholt werden muss.
Und welches ist das gerade?
Der Winter war sehr stark geprägt vom Sedimentmanagement, also dem Hafenschlick. Eigentlich ein ganz banales Thema: Hamburg ist ein Tidehafen und dadurch haben wir immer Sedimenteintrag – deshalb müssen wir immer schon und auch weiterhin regelmäßig Unterhaltungsmaßnahmen durchführen. Dabei fällt Baggergut an, das an anderer Stelle abgeladen wird.
Das ist in der Tat ein Thema, mit dem sich alle Wirtschaftssenatoren permanent auseinandersetzen mussten . . .
. . . wir haben im Bereich der Elbe und Nordsee die Situation, dass es geeignete Verbringstellen gibt. Inwieweit wir die nutzen dürfen, ist oft Gegenstand von Genehmigungsverfahren und Verhandlungssache mit dem Umland. Aber wir sind jetzt, wie ich finde, zum ersten Mal in eine richtig gute Debatte mit unseren Nachbarländern gekommen. Der Hafen liegt zwar in Hamburg, und die Stadt unterhält diesen auch, aber wir sind nicht die einzigen Profiteure. Deshalb dürfen wir auch erwarten, dass wir nicht Bittsteller, sondern auch Partner sind mit den umliegenden Bundesländern, die gleichermaßen profitieren. Schließlich bezahlen wir für die Verbringung in Schleswig-Holsteins Gewässern.
Ist denn die Kuh nun vom Eis?
Wir sind jedenfalls in einem guten Gespräch. Die Frage stellt sich ja nicht nur dieses Jahr, sondern wir wollen zu mittel- bis langfristigen Lösungen gelangen. Ich habe das Gefühl, dass wir dabei jetzt gemeinschaftlich unterwegs sind.
Welches Thema brennt noch unter den Nägeln?
Das sperrige Thema der Energietransformation. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat uns die Abhängigkeiten von fossilen Brennstoffen gezeigt. Die hohe private Strom- oder Gasrechnung, die jeder sieht, ist der eine Teil der Geschichte, der andere: Wie ersetzen wir eigentlich die großen Energiebedarfe von Industrie und Gewerbe – von denen wir ja, ehrlich gesagt, auch wollen, dass sie groß bleiben. Auch aus klimapolitischer Sicht ist es wünschenswert, hier eine CO2-reduzierte Produktion zu ermöglichen, statt dass es zu einer Abwanderung kommt in Weltregionen, in denen dieselbe Produktion dennoch stattfinden würde – dann aber mit Energie aus Kohleverstromung… Deshalb ist es mindestens die zweite wichtige Aufgabe, diese Energietransformation für die Industrie zu organisieren.
Wie steht es um den Fachkräftemangel, welche Ansätze gibt es aus Hamburger Sicht?
Ein wichtiger Punkt ist es, die Menschen, die schon im Arbeitsmarkt sind, so zu befähigen, dass sie nicht unter ihrem Potenzial unterwegs sind. Das gilt beispielsweise für Zugewanderte. Dazu zählen aber auch Angebote wie der Hamburger Weiterbildungsbonus und die Möglichkeit, parallel zum Job beispielsweise ein Duales Studium zu ermöglichen.
Man hat in vielen Unternehmergesprächen zurzeit den Eindruck, dass jeder eingestellt wird, der nicht bei Drei auf dem Baum ist. Ist das so?
Es gibt zwei Debattenkulissen: Wie ist das eigentlich für junge Menschen, die heute aus der Schule kommen, konfrontiert mit vielen Problemen, der unsicheren Weltlage und so weiter. Und es gibt eine zweite Kulisse: Wenn man tief durchatmet und sich besinnt, dann erkennt man: Die Chancen, sein Glück am Arbeitsmarkt zu finden, waren noch nie so groß wie heute. Wir leben in einer Chancen-Welt. Das auszusprechen, macht viel Zuversicht, die auch gerechtfertigt ist. Das ist auch die Botschaft an alle in der Stadt: Ob man jung ist oder lebenserfahren – jeder, der sich verändern will, findet jetzt beste Bedingungen vor.
Das gilt mittlerweile sogar für die Generation Ü50 . . .
. . . absolut! Wir betrachten den Arbeitsmarkt jetzt ganz anders. Es gab Zeiten in der Bundesrepublik, da hatten es ältere Arbeitnehmer sehr schwer. Jetzt erkennen die Unternehmen: Wer Mitte 50 ist, steht dem Arbeitsmarkt noch zwölf Jahre zur Verfügung. Da lohnt es sich, noch einmal zu investieren und auch zu qualifizieren.
Thema Industrie – es gibt Berichte, wonach sich der Industriestandort Deutschland gerade abschafft. Wie sieht es in Hamburg aus?
Hamburg hat eins der größten Industriegebiete Nordeuropas. Das ist gut. Und wir haben eine gute Strategie mit den Industrieunternehmen zum Thema Energieversorgung entwickelt. Trotzdem liegen große Aufgaben vor uns. Die allererste ist es jetzt, einmal tapfer auszusprechen: Es braucht auch weiterhin Industrie in Hamburg. Und Industrie hat Zukunft. Punkt! Dafür müssen wir eine Industriepolitik mit Zukunftsblick gestalten.
Wo soll diese Politik denn gemacht werden?
Dazu müssen Bund und Länder zusammenwirken. Nicht alle Instrumente, die wir brauchen, liegen im Obligo eines Stadtstaates. Wir können nicht die Fragen der Weltpolitik mit kommunalen Mitteln beantworten. Dazu zählen die Energiepolitik, das Fachkräftethema und das deutliche Bekenntnis zur Industrie in Deutschland. Wir erleben, dass zunehmend an anderen Standorten investiert wird. Die Gefahr der Deindustrialisierung ist real. Ich halte sie von Berliner Seite aus für unterschätzt.
Das Thema Energie haben wir schon angesprochen, einen wichtiges Aspekt jedoch nicht: die mangelnde Infrastruktur. Was muss geschehen, um hier spürbare Verbesserungen beispielsweise bei leistungsfähigen Stromleitungen, aber auch beim Glasfaser zu erzielen?
Wir müssen ganz unumwunden einräumen: Die in den 2000er-Jahren getroffene Annahme, dass der Glasfaserausbau schneller vorangeht, wenn man ihn privatisiert, war falsch. Das hat in den Ballungsräumen sehr gut funktioniert, aber es besteht kein wirtschaftliches Interesse, in die dünner besiedelten Gebiete zu gehen. Wir sollten daraus lernen. Infrastruktur ist Daseinsvorsorge. Da kann man nicht darauf hoffen, dass die es erledigen, für die es sich lohnt – weil sie es dann nicht mehr erledigen, wenn es sich nicht lohnt. Hamburg hat es da ja als Stadtstaat noch vergleichsweise gut. Ganz dramatisch ist die Lage in den Flächenländern. Da ließe sich, wie ich finde, mittlerweile sogar grundgesetzlich ableiten, dass sich der Staat engagiert, denn es geht ja um nicht weniger als gleiche Lebensbedingungen im Land. Nach 20 Jahren müssen wir erkennen: Die Erfolge des privatwirtschaftlichen Ansatzes sind nicht überzeugend.
Dasselbe Problem haben wir jetzt auch beim Stromnetz – es ist vielfach nicht leistungsfähig genug ausgelegt, um Wärmepumpen und Wallboxen zu betreiben. Was also tun?
Machen wir uns mal nichts vor: Bis vor 15 Monaten hat niemand damit gerechnet, dass sich jetzt alles so massiv auf Strom als Energiequelle fokussiert. Deshalb haben wir noch große Investitionsanstrengungen vor uns. Die Ladeinfrastruktur ist thematisch in der Wirtschaftsbehörde angesiedelt, der Netzausbau in der Umweltbehörde. Wir sind da gemeinschaftlich unterwegs, aber: Die Aufgabe ist groß.
Hamburg hat Vattenfall das stillgelegte Steinkohlekraftwerk Moorburg abgekauft, um dort ein Zentrum der Wasserstoffwirtschaft zu errichten. Wie geht das Vorhaben nun weiter?
Jetzt kommt der Rückbau, um Platz für den Bau eines Elektrolyseurs zu schaffen.
Dazu kann man das alte Gebäude nicht nutzen?
Am Standort bleiben beispielsweise größere Silostrukturen, die Stromübergabepunkte und die Hafenanlage. Anderes muss neu errichtet werden. Der Standort ist ideal. Ich glaube, das wird ein Erfolgsmodell.
Hat Vattenfall sozusagen den Schlüssel abgegeben?
Ja, das Projekt wird von einem Konsortium mit Industriepartnern gemeinsam mit der Stadt Hamburg betrieben. Ich finde es richtig, dass wir als Staat anfangs dabei sind. Weil wir in der Phase des Hochlaufs mithelfen können, dass alle dabei bleiben – auch wenn es nicht ab der ersten Sekunde ein Return of invest geben wird, sondern dieser Zeitpunkt noch in der Zukunft liegt. Jetzt kann es losgehen.