Immer mehr Firmen appellieren an ihre Beschäftigten, bei der Europawahl am 26. Mai die Stimme abzugeben. In Oldenburg starteten einige Unternehmen sogar einen gemeinsamen Brief an die Belegschaften.
Dass sich Unternehmer gegenüber ihren Belegschaften zu grundsatzpolitischen Fragen äußern, ist eher selten. Doch die aktuelle Situation in Europa, die endlose Diskussion um den Brexit und die Spalt-Tendenzen in einigen süd- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten scheinen einen Paradigmenwechsel ausgelöst zu haben. Allein in Oldenburg haben sich die Chefetagen aus sechs namhaften Unternehmen an ihre Beschäftigten gewandt und sie dringend gebeten, ihr Stimmrecht bei der Europawahl wahrzunehmen: „Wir als Unternehmen profitieren vom gemeinsamen Wirtschaftsraum, der Binnenmarkt sichert unmittelbar Arbeitsplätze“, heißt es in dem Brief, den unter anderem die Vorstände des Fotodienstleisters Cewe Color, der EWE und der Oldenburgischen Landesbank unterschrieben haben.
Frust über den Brexit
„Unternehmen arbeiten schon seit langem über alle politischen Grenzen hinweg und wissen, dass wir in Europa nicht ohne die Gemeinschaft sein können“, sagt der CDU-Europaabgeordnete und frühere niedersächsische Ministerpräsident David McAllister. Und fast wie ein Stoßgebet fügt er hinzu: „Hätte die britische Wirtschaft bloß vor der Volksabstimmung über den Brexit auch einen solchen Brief an ihre Belegschaften geschrieben.“
Wie dem Christdemokraten aus Niedersachsen ist auch dem Bremer SPD-Europaabgeordneten Joachim Schuster der Frust über den politischen Schleuderkurs rund um den Brexit in Großbritannien anzumerken. In Brüssel und Straßburg haben sie sich viele Monate mit dem Hin und Her aus London herumgeschlagen. Nun holt Schuster die von den Briten salonfähig gemachte EU-Kritik auch an den Infoständen im Wahlkampf ein. „Überall wird einem die EU-Verordnung zur Gurkenkrümmung um die Ohren geschlagen“, stöhnt er, „dabei wurde die schon 2008 gestrichen.“ Gegen den populistischen Europa-Skeptizismus sieht er nur ein Mittel im Straßenwahlkampf: „Erklären, erklären, erklären.“
Vertrauensverlust
Für die europäischen Christ- und Sozialdemokraten werden erfolgreiche Erklärungen an den Wahlkampfständen zur politischen Notwendigkeit. Die jüngsten Umfragen bestätigen den Trend, dass sie künftig auf einen Partner zum Erhalt der bestimmenden Mehrheit im Europaparlament angewiesen sind. Und für die Sozialdemokraten ist es zudem noch die Frage, ob die Rechtsextremen möglicherweise doch noch stärker werden als sie selbst. Joachim Schuster erkennt politische Fehler der deutschen Sozialdemokraten als Ursache für den Vertrauensverlust für seine Partei: Dass sie einst die Globalisierung der Wirtschaft aktiv unterstützt habe, „hat bei unseren klassischen Wählern viele Ängste ausgelöst und sie von uns weggetrieben“. Schuster erklärt damit den strikteren Abgrenzungskurs der SPD gegenüber der CDU in bundespolitischen Wirtschafts- und Sozialfragen; in der Europapolitik fällt dagegen auf, wie einig sich McAllister und Schuster in vielen Fragen sind.
Übereinstimmend glauben sie zum Beispiel, dass der Brexit neben unüberschaubar vielen negativen Seiten auch sein Gutes hat: „Er hat erkennbar viele Menschen motiviert, für Europa einzutreten“, berichten beide Abgeordneten. „Schritt für Schritt entsteht eine europäische politische Öffentlichkeit“, freut sich McAllister: „Das muss nur noch in Brüssel ankommen.“ (heu)