Marketing-Initiative der Bremerhavener Quartiere

Die klassische „Meile“: Vor 20 Jahren wurde die Fußgängerzone neu gestaltet. Dennoch muss das Zentrum weiter gestärkt werden. Foto: Wolfgang Heumer

Die Lange Straße im Bremerhavener Stadtteil Lehe wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar. Auffällig ist zunächst, dass die Straße an sich schmaler zu sein scheint als andere in der Stadt, dass die Häuser kleiner und der Gesamteindruck eher klein – als großstädtisch und oberzentral ist. Beim näheren Hinsehen fällt jedoch auf, dass die Straße mehr ist, als sie zunächst zu sein scheint. Rechtsanwaltsbüros, Finanzdienstleister, Handwerksbetriebe, eine Kirchengemeinde, sicherlich manches Gebäude, das einer Sanierung bedürfte, aber auch viel gut gepflegte Altbausubstanz – und Fachgeschäfte. Der Büromöbel-Fachhändler Carl F. Börges, das Sanitätshaus Dohse, die Alte Privilegierte Apotheke, das Bettenhaus Aissen und vielleicht noch ein knappes Dutzend weiterer zumeist Inhabergeführte kleine Läden.

Glaubt man den gängigen regionalen und überregionalen Medienberichten über die wirtschaftliche Entwicklung Bremerhavens und insbesondere des Handels im Oberzentrum der Elbe-Weser-Region, dürfte es diese Straße gar nicht geben. Und doch kommt bald noch ein weiteres Geschäft mit Qualitätsanspruch und einer gehobenen Kundschaft als Zielgruppe hinzu. „Sailor & Harbour“ verlässt das jüngste Einkaufszentrum der Stadt – das Mediterraneo im Touristengebiet Havenwelten – und zieht in ein Kaufmannshaus an der Langen Straße. „Sicherlich ist die Situation an anderen Stellen in der Stadt nicht leicht, aber das Beispiel Lange Straße zeigt, dass in Bremerhaven ein gutes Potenzial vorhanden ist“, sagt der Vize-Präses der Handelskammer Bremen, Stephan Schulze-Aissen, „es ist zum einen die Frage, was der Handel selbst daraus macht. Und es ist auch wichtig, was für die Stadtentwicklung getan wird.“

Rund 780 Einzelhandelsgeschäfte in Bremerhaven

Rund 780 Einzelhandelsgeschäfte mit einem Gesamtumsatz von 774 Millionen Euro gibt es laut der jüngsten Bestandserhebung (2015) in Bremerhaven. Offenbar gibt es dabei grundsätzlich noch Bedarf für mehr Läden. Sowohl bei den Lebensmitteln und Verbrauchsgütern als auch im so genannten aperiodischen Bedarf (Bekleidung, Schuhe, Einrichtungen) verfügt die Seestadt nach Angaben der Handelskammer Bremen über eine unterdurchschnittliche Ausstattung gemessen an der Einwohnerzahl.

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Gleichwohl lebt der Handel zu einem beträchtlichen Teil von Kunden außerhalb der Stadt. Darauf deutet die so genannte Zentralitätskennziffer hin, die in Bremerhaven bei 138 Prozent liegt – alles was bei dieser kompliziert berechneten Zahl über 100 Prozent hinausgeht, gilt als Kaufkraftzufluss aus dem Umland. In den Stadtteilen Bremerhavens kommt dieses Geld allerdings nicht überall an. Ob an der Hafenstraße in Lehe, der Georgstraße in Geestemünde oder der Weserstraße in Wulsdorf – überall hat sich die Einzelhandelsstruktur verschlechtert, klaffen Lücken und Leerstände. Die Ursachen sind unterschiedlich, weiß Schulze-Aissen: „Zum Teil ist es der demographische und soziale Wandel in den Stadtteilen. Zum Teil haben Inhaber bei Erreichen der Altersgrenze keine Nachfolger gefunden. Manches ist auf stadtplanerische Fehlentwicklungen zurückzuführen.“

Gemeinsames Konzept mit dem Umland

Zu letzteren Sünden zählt der Vize-Präses der Handelskammer, dass in Bremerhaven in der Vergangenheit dezentrale Handelsansiedlungen zugelassen wurden. Dadurch wurde Kaufkraft aus der Innenstadt und den Stadtteilzentren abgezogen. Innerstädtisch setzte sich damit die fatale Entwicklung fort, die die niedersächsischen Nachbarn mit ihren Einkaufszentren auf der grünen Wiese direkt am Stadtrand begonnen hatten. Mittlerweile haben Handel und Stadt gemeinsam ein Einzelhandelsentwicklungskonzept für Bremerhaven erstellt, das Handelsansiedlungen sinnvoll begleitet und steuert. Zudem wird derzeit ein regionales Handelsentwicklungskonzept gemeinsam mit den umliegenden Gemeinden erarbeitet.

Mittlerweile gibt es verstärkte Anstrengungen, die zum Teil gravierenden Einbrüche seit Ende der 1990er Jahre und rund um die stärkste Wirtschaftskrise 2005 wieder auszugleichen. Bereits seit 2006 agieren die Werbekreise der einzelnen Stadtteile gemeinsam in der Marketing-Initiative der Bremerhavener Quartiere, die insgesamt etwa 750 Einzelhandelsgeschäfte in der Stadt repräsentiert. Dass es Lücken in den Reihen der Kaufmannschaft gibt, wurde in den vergangenen Jahren allerdings immer wieder in der Fußgängerzone sichtbar: In der Weihnachtszeit war dort keine durchgängige stimmungsvolle Beleuchtung hinzubekommen, weil sich insbesondere überregionale Kettenläden nicht an den Kosten beteiligen wollten.

Geringe Resonanz: Eigentlich sollte das „Mediterraneo“ als Frequenzbringer für die Havenwelten dienen. Jetzt soll es als Outlet-Center mehr Anziehungskraft bekommen. Foto: Wolfgang Heumer

In einigen besonders kritischen Bereichen sind in Zusammenarbeit mit der Stadt inzwischen Stadtteilmanager eingesetzt. Das Beispiel der Quartiermeisterin für Lehe, Brigitte Hawelka, und die Initiativen für die Hafenstraße insbesondere in der „Wunderwerft“ sind nach Überzeugung von Schulze-Aissen vorbildlich auch für andere Stadtteile. Allerdings warnt er vor übertriebenen Erwartungen: „Letztlich wird es ein Prozess sein, der sich in vielen kleinen Schritten entwickelt und ein Netzwerk aus vielen Akteuren erfordert.“

Wichtige Impulse kommen von stadtplanerischen Akzenten und privaten Investitionen. Große Hoffnungen ruhen so auf dem Gelände des ehemaligen Kalksandsteinwerkes Kistner in Lehe oder auf der neuen Nutzung der alten Möbelfabrik Warrings in Wulsdorf. Beide Projekte sollen mit der Kombination aus Wohn- und Geschäftshäusern neue Akzente setzen.

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Geschäftsräume für kurze Zeit mieten

In der Zwischenzeit wächst das Netzwerk ständig nicht nur an Akteuren sondern auch an Ideen. Die Städtische Wohnungsgesellschaft Stäwog bemüht sich beispielsweise seit mittlerweile zwei Jahren um eine „Springflut“ im Einzelhandel. Unter diesem Stichwort versucht die Stäwog, in bislang leer stehenden Läden so genannte Pop-up-Stores zu etablieren. Dieses Konzept ist in größeren Städten bereits seit Jahren erfolgreich: Pfiffige Existenzgründer oder auch etablierte Einzelhändler mieten sich für kurze Zeit in leer stehenden Geschäften ein und verkaufen dort ein besonderes Warenangebot, das es eben nur für diese Zeit gibt. Inzwischen schlägt die „Springflut“ auch in Bremerhaven erste Wellen – und zeigt damit, dass der Handel letztlich auch von der Initiative der Händler selbst lebt.

Großes Einzugsgebiet

Die Lange Straße in Lehe ist ein gutes Beispiel dafür, welche Wirkung solche Initiativen haben. Keines der dort ansässigen Fachgeschäfte lebt von den Menschen unmittelbar in der Nachbarschaft. Schulze-Aissen beispielsweise bedient mit seinem Bettenhaus ein Einzugsgebiet, das mit einem Durchmesser von gut 300 Kilometern bis nach Hamburg reicht. „Nicht der Standort ist entscheidend, sondern dass man sich auf seine Kernkompetenz konzentriert“, ist er überzeugt. Gezielt hat er in sein Unternehmen investiert und beispielsweise ein altes Kellergewölbe unter seinem Geschäftshaus zu einem stilvollen Ausstellungs- und Beratungsraum umgestaltet.

In Qualität investiert: Im Bettenhaus Aissen wurde ein Kellergewölbe aus der Gründerzeit zum stilvollen Beratungszentrum aufgewertet. Foto: Wolfgang Heumer

Internet gezielt nutzen

Das Internet, das vielfach als Angstgegner des stationären Einzelhandels gilt, setzt er gezielt ein. Auch wenn er bewusst keinen Online-Handel aufbauen will, nutzt Schulze-Aissen doch zunehmend die digitale Medienwelt für die Kommunikation. Mit Erfolg: Gerade hat er bei Facebook einen Kurzfilm über einen Test von Spannbettlaken gepostet – „das haben sich in kurzer Zeit 19000 Leute angesehen“, registrierte er erfreut. Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Handelskammer – der tatsächliche Umsatzanteil des Online-Handels am Gesamtgeschäft in Deutschland liegt gerade mal bei zehn Prozent. Wichtig ist nach Überzeugung der Kammer, dass auch die örtlichen Einzelhändler das weltweite Netz als Ergänzung ihrer regionalen (Werbe-)Aktivitäten begreifen. Der kurze Blick in die Zeitung und ins Internet führt am Ende dann zum selben Ziel in der Langen Straße. Dort entscheidet dann die Qualität der Beratung über den Erfolg eines Geschäftes. Stephan Schulze-Aissen hat dafür ein ganz einfaches Rezept: „Man muss als Händler den Standard pflegen, den man als Kunde auch erwartet.“

Von Wolfgang Heumer